In den letzten Tagen wäre ich besser abstinent geblieben. Nicht was Wein, Weib und Gesang angeht – mehr auf die Nachrichten bezogen. Der Prozess um den Kindesmissbrauch in Staufen ist in jeder denkbaren Dimension undenkbar, nicht auszuhalten und lässt mich, wie wahrscheinlich die Meisten, ratlos zurück. Über das Unverständnis, was Menschen anderen Menschen, besonders Kindern, antun können, will ich heute nicht schreiben. Ich will mir auch ersparen, auf die Details der Tat einzugehen, oder die Frage zu stellen, wie es überhaupt so weit kommen konnte. Jeder, der die Abläufe und Hintergründe recherchiert hat, wird wohl wie ich nur schwer Schlaf gefunden haben.

Schreiben will ich lieber darüber, wie wir als Gesellschaft mit diesem Fall umgehen, oder etwas genauer, wie unser Rechtsstaat damit umgeht. Unser Rechtsstaat wird in diesem Fall von Juristen repräsentiert, sowohl auf der Seite des Anklägers als auch bei den Verteidigern und, natürlich, in Form von Richtern. Über Juristen habe ich schon das ein oder andere mal geschrieben. Sie stellen einen Sonderfall in unserem System dar. Sie sind quasi die Einzigen, denen man erlaubt, die Regeln, die das Zusammenleben aller Menschen in diesem Land organisieren sollen, zu interpretieren. Zusätzlich stellen Juristen auch die überwiegende Mehrheit der Bundestagsabgeordneten. Man könnte also sagen, unser Land wird von Juristen gestaltet und gelenkt. Kann man mögen – muss man aber nicht. Möglicherweise gibt es viele Juristen, mit denen man sich gerne umgibt. Ich persönlich hätte aber Mühe, mehr als die Mindestbesetzung für eine Skatrunde zusammen zu bekommen. Das liegt im Wesentlichen an der (häufig) sonderbaren Art, wie sie die Welt sehen und mit ihr umgehen. Besonders wenn es mal nicht so läuft, wie sie es gerne hätten. „Den“ Juristen gibt es sicher nicht – es sind eben Menschen, jeder ist anders. Deswegen müssen wir uns behelfsmäßig Einzelfälle ansehen.
Der Prozess in Staufen ist ohne Zweifel für die Bundesrepublik von besonderer Bedeutung. Deshalb ist es kein Zweifel, dass man in Heidelberg einen erfahrenen Richter den Vorsitz übertragen hat. Über die Vita von Richter Bürgelin konnte ich wenig in Erfahrung bringen, aber ich denke, man hat dort sicher einen der „Besten“ ausgewählt, um dieses Thema zu verhandeln. Missbrauch ist für Richter Bürgelin kein neues Thema. Er hat bereits in einigen anderen Fällen in diesem Themenkomplex geurteilt, zuletzt im Mai 2018, als er einen Soldaten zu 8 Jahren Haft wegen Kindesmissbrauchs verurteilte. Interessantes Detail an diesem Fall: auch hier sah der Richter keine gesetzliche Handhabe, um für den Angeklagten nach der Haft Sicherheitsverwahrung anzuordnen.
Sicherheitsverwahrung ist eine gefährliche Waffe, deren Missbrauch zu Recht durch allerlei Gesetze – auch auf EU Ebene – verhindert werden soll. Trotzdem ist es verfassungskonform, dass man ein Instrument hat, dass es ermöglicht, die Gesellschaft – auch nach dem Verbüßen einer Freiheitsstrafe – vor einem potentiellen Straftäter zu schützen. Es ist der einzige Fall, in dem eine Person ohne Straftat in Haft gehalten wird.
Auch in Staufen wurde Sicherheitsverwahrung für die Mutter abgelehnt. Sie wurde zu zwölfeinhalb Jahren Haft, wegen schweren sexuellen Missbrauchs, schwerer Vergewaltigung, schwerer Zwangsprostitution, Menschenhandel, sexueller Ausbeutung, Besitz und Herstellung von Kinderpornographie verurteilt. Dazu kommen noch hohe Geldstrafen. Eine Rolle für den Verzicht auf Sicherheitsverwahrung spielte dabei sicher auch der Gutachter Dr. med. Hartmut F. Pleines (Arzt, Facharzt für Psychiatrie & Psychotherapie) aus Heidelberg. Auch dieser Mann ist kein Unbekannter. Dem eifrigen Zeitungsleser ist Herr Dr. Pleines schon häufiger in aufsehenerregenden Prozessen als Gutachter aufgefallen, so z.B. im Prozess gegen Kachelmann, in dem er ein Gutachten ablieferte, ohne direkt mit dem Beklagten zu sprechen. Bei der Angeklagten Berrin T. hatte er mehr Möglichkeiten. Deshalb konnte er auch detailliert im Gutachten und auch im Gerichtssaal berichten. Es kommt einiges zur Sprache. Der geringe IQ der Angeklagten (62-75), der frühe Tod der Eltern, das Aufwachsen bei den Großeltern, Hauptschulabschluss, aber auch die Aussage, dass es bei Berrin T. in der Kindheit und auch später keine eigenen Erfahrungen mit Missbrauch gegeben hat. Das ist selten, da die meisten Menschen, die Missbrauch betreiben, selber Erfahrungen mit Missbrauch haben. Es gibt auch keine Diagnose in Richtung psychischer Auffälligkeiten. Berrin T. ist gesund. Pleines teilt mit, „Frau T. ist eine Frau, die durchaus auf Zeiten beruflicher Anpassung zurückblicken kann“. Sie habe durchaus stabile Lebensverhältnisse gehabt, sich konstruktiv mit Leistungsträgern und Vermietern gestritten und allen jugendamtlichen Interventionen getrotzt. Stattdessen sei bei Berrin T. von einer Lernbehinderung auszugehen. Er sieht sie jedoch als voll schuldfähig: „Frau T. ist nicht in einem Maße minderbegabt, dass ihr die Einsichtsfähigkeit in ihr Tun fehlen würde“. Erst am Ende des Berichts kommt der Hammer: „Frau T. ist weit von einer eingewurzelten Bereitschaft zu Rechtsbrüchen entfernt“ meint Pleines. Er sieht die Tat den „Umständen“ geschuldet. Aus diesem Grund hält er Sicherungsverwahrung nicht für nötig.
Ich bin sicherlich kein prominenter psychologischer Gutachter wie Herr Dr. Pleines, aber so ein wenig ist aus meinem Psychologiestudium doch hängengeblieben – hauptsächlich was man als Psychologe NICHT mit Sicherheit sagen kann. Selbst wenn die Taten „nur“ den Umständen geschuldet wären, wie kann ich garantieren, dass Berrin T. nicht nach ihrer Entlassung wieder in eine ähnliche Konstellation gerät? Offensichtlich hat es ihr darin so gut gefallen, dass sie bereit war, ihr eigenes Kind zu opfern und selbst der Gutachter sieht kein bis sehr wenig Einsicht in die begangenen Straftaten.
Das Urteil von 12 Jahren ist kein Pappenstiel, trotzdem, es bleibt die Frage, was jemand tun muss, um das mögliche Strafmaß voll auszuschöpfen? Maximal wären 15 Jahre plus anschließende Sicherheitsverwahrung möglich gewesen. Dies ist laut Gesetz bei „schwerster Schuld“ zu verhängen. Wenn man davon ausgeht, dass Richter Bürgelin nach Recht und Gesetz geurteilt hat, muss es ja offensichtlich mildernde Umstände gegeben haben – weswegen nicht das volle Strafmaß verhängt wurde. Das war kein Versehen. Zitat Bürgelin: „Uns ist bewusst, dass die Öffentlichkeit das Urteil als zu milde bewerten wird.“ Ich sehe nicht, was Berrin T. als schuldmindernd gelten machen könnte. Es gibt keine Einsicht, keine nach außen sichtbare Reue, kein echtes Geständnis – immer nur zugeben, was nicht mehr zu leugnen ist – und auch dem Kind wurde eine Befragung durch ein umfassendes Geständnis nicht erspart. Alles Dinge, die bei dem Mitangeklagten zu finden waren – der übrigens eine höhere Strafe erhalten hat.
Scheinbar war für die beteiligten Juristen alles in Ordnung. Selbst die Anklägerin Novak war zufrieden: „…es ist ein guter Tag für den Rechtsstaat. In dem Verfahren konnten alle Beteiligten ihr Gesicht wahren. Wir gehen auseinander und können uns gegenseitig in die Augen sehen. Das erlebt man mit solchen Angeklagten nicht alle Tage.“ Na, dann bin ich ja froh, dass alle so happy sind. Ich bin’s nicht und ich glaube auch nicht, dass dies für das betroffene Kind gilt. Wahrscheinlich werden aus den 12 Jahren bei guter Führung 6 und diese Mutter ist wieder draußen. Dann können die Strukturen wieder wegsehen, die zu diesem Fall geführt haben. Offenbar stimmt die Redewendung wirklich: Auf See und vor Gericht ist alles möglich.
Am Ende fällt mir dazu ein Zitat von Bärbel Bohley ein: „Wir hatten Gerechtigkeit erhofft, doch bekommen haben wir den Rechtsstaat.“
Peace und danke für’s Lesen.
C.
#keinPolitiker