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Trägt Justitia eine Augenbinde oder ein Brett vorm Kopf?

Von Maarten van Heemskerck, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=11975108

Jeder hat das Bild der Göttin Justitia mit ihren verbunden Augen und der Waage schon gesehen. Sie gilt gemeinhin als Symbol für „Gerechtigkeit“ und die Augenbinde soll unterstreichen, dass sie gerecht – ohne Ansehen der Person, um die es geht – für jedermann gleich entscheidet. Im Gegensatz dazu kann man auch mit einem Brett vorm Kopf blind sein, nur dass sich diese Version hauptsächlich dadurch auszeichnet, dass man auf seinem Standpunkt (oder Gesetzen) beharrt, obwohl gute Gründe dafür bestehen, dies nicht zu tun.

Um eine Antwort auf die Frage zu erhalten, ob es sich bei Justitia um eine Augenbinde oder ein Brett handelt, könnten wir uns Fälle aus der aktuellen Rechtsprechung ansehen. Dass ich selbst kein Jurist bin, würde ich in diesem Fall nicht als Nachteil ansehen. Eher als Benchmark- Test, inwieweit ein Durchschnittsbürger die Frage nach Brett oder Augenbinde wohl beantworten würde. Das Beispiel (Artikel des Deutschlandfunks im Link), das ich mir ausgesucht habe, ist der Fall der aus Syrien geflüchteten A. (geboren am 01.01.2001), die zusammen mit ihrem Ehemann (und Cousin) H. (geboren am 01.01.1994) im Spätsommer 2015 in Deutschland ankam. Wenn wir mal den (merkwürdigen) Zufall beiseite lassen, dass beide am gleichen Tag Geburtstag haben (ist das wirklich das Geburtsdatum/Jahr?), stellen wir einen gewissen Altersunterschied fest – was erst einmal nichts schlimmes wäre. Tatsächlich war die kleine A. am Tag ihrer Eheschließung aber erst 14 Jahre alt. Es handelt sich also um eine sogenannte Kinderehe.

Hier in Deutschland gab es dann natürlich Probleme, da eine Ehe in diesem Alter nach deutschem Recht nicht möglich ist – schon gar nicht, wenn der Ehemann bereits volljährig ist. Tatsächlich griff das Jugendamt ein und nahm A. in Obhut und ein Vormund wurde bestellt.

Und dann kam Justitia auf Touren. Um es kurz zu machen: das OLG Bamberg sprach im Beschluss vom 12.05.2016 unter dem Zeichen 2 UF 58/16 f folgendes Urteil (kompletter Text im Link):

  1. Dem einem minderjährigen Verheirateten bestellten Vormund kommt wegen §§ 1800, 1633 BGB keine Entscheidungsbefugnis für den Aufenthalt des Mündels zu. Dies gilt auch hinsichtlich wirksam verheirateter minderjähriger Flüchtlinge, wenn nach dem Recht des Herkunftsstaates insoweit ebenfalls keine elterliche Sorge besteht (Art. 15, 16, 20 KSÜ). (amtlicher Leitsatz)

 

  1. Eine in Syrien nach syrischem Eheschließungsrecht wirksam geschlossene Ehe einer zum Eheschließungszeitpunkt 14-Jährigen mit einem Volljährigen ist als wirksam anzuerkennen, wenn die Ehegatten der sunnitischen Glaubensrichtung angehören und die Ehe bereits vollzogen ist. (amtlicher Leitsatz)

 

  1. Die Unterschreitung des Ehemündigkeitsalters des § 1303 BGB bei einer Eheschließung im Ausland führt selbst bei Unterstellung eines Verstoßes gegen den ordre public (Art. 6 EGBGB) nicht zur Nichtigkeit der Ehe, wenn nach dem für die Eheschließung gem. Art. 11, 13 EGBGB anzuwendenden ausländischen Recht die Ehe bei Unterschreitung des dort geregelten Ehemündigkeitsalters nicht unwirksam, sondern nur anfechtbar oder aufhebbar wäre. (amtlicher Leitsatz)

Wem das Ganze etwas zur verschwurbelt ist, hier eine kurze Zusammenfassung:

  1. Es gibt keinen Vormund/Beistand/Schutz des Jugendamtes für die minderjährige Ehefrau.
  2. Da es in Syrien legal ist, eine 14-jährige zu heiraten und mit ihr Sex zu haben, ist es auch hier legal.
  3. Selbst wenn es in Syrien nicht legal wäre, bliebe es hier so lange legal, bis die Ehe in Syrien annulliert würde.

Und spätestens hier bin ich sehr skeptisch, ob die Augenbinde nicht vielleicht doch ein Brett ist!

Schauen wir uns die Folgen einmal genauer an. In der Urteilsbegründung wird von einer realen Liebesbeziehung zwischen den Ehepartnern ausgegangen. Es wird keinerlei Zwang vermutet. Das Jugendamt sah allerdings bei A. ein „noch eher kindliches bis jugendliches Verhalten und füge sich im Ergebnis den Erwartungen ihrer Familie und des Beteiligten H. (der Ehemann)“. Außerdem wurde befürchtet, dass A. schnell schwanger werden könnte, da Sex ohne wirksame Verhütung praktiziert werde. Ausgehebelt wurde das Ganze von einem Verfahrensbeistand. Leider gibt das Urteil keinen Aufschluss über den Beistand, aber es handelt sich in den meisten Fällen um Juristen. Die bestellte Verfahrensbeiständin (eine Frau!) sah aber in der Betreuung des Jugendamts und den stattfindenden beaufsichtigten Treffen der Ehepartner im Wesentlichen ein Integrationshindernis. Ob es der Vorgang war, der die Dame so mitgenommen hat oder nicht – im weiteren Prozess konnte die Dame aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr auftreten. Es wurde eine Kollegin verpflichtet – wieder eine Frau. Auch sie teilte die Auffassung, dass es keinerlei Druck gab bzw. gegeben hätte und im übrigen die Ehe in Syrien völlig „normal“ wäre. Das Jugendamt blieb bei seiner gegenteiligen Auffassung. Am Ende zog Ehemann H. – mittlerweile 21 mit seiner Gattin A. (15 Jahre) als anerkanntes Ehepaar von dannen. Über das weitere Schicksal von A. ist mir bisher nichts bekannt.

Die Richter entschieden tatsächlich – soweit ich das beurteilen kann – auf der Basis gültiger Gesetze.

Was bedeutet das für uns? Zunächst erlauben wir dadurch ganz offiziell, dass ausländische Regelungen unsere Gesetze aushebeln dürfen. Wir erlauben also ausländischen Staatsbürgern, in Deutschland Gesetze zu ignorieren, an die wir uns alle halten müssen. Wenn es also, z.B. nach bestimmten religiösen oder kulturellen Gegebenheiten irgendwo möglich ist, dass eine 12-jährige einen 52-jährigen heiratet (was es tatsächlich gibt) und die beiden sich entschließen nach Deutschland zu kommen, ist das kein Problem. Die nächste Frage ist, gilt das dann auch für andere Kontexte? Wenn anderswo das Schlagen der Ehefrau erlaubt ist, gilt das dann hier auch? Gibt es überhaupt einen Kinder- bzw. Jugendschutz für ausländische Kinder in Paarbeziehungen?

Außerdem, wie erklären wir den Bürgern, dass es jetzt plötzlich 2 Klassen von Menschen in Deutschland gibt? Diejenigen, die unter dem Schutz bzw. Aufsicht der Gesetze stehen und die, für die das nicht gilt?

Wie können wir im Ernst annehmen, die Verheiratung einer 14-jährigen erfolgt aus dem reinen und erwachsenen Willen der Braut – egal in welcher Kultur? Wo sind denn eigentlich jetzt die Aufschreie der ganzen Feministinnen oder Feministen? Reicht es, wenn im Urteilstext korrekt gegendert wird? Reicht unsere Empörung über sexuelle Belästigung, um ein Gedicht von einer Hauswand löschen zu lassen, weil der Begriff „Frau“ darin vorkommt, aber nicht, um ein real existierendes Mädchen von 15 Jahren zu schützen?

https://www.girlsglobe.org/2013/04/15/child-marriage-a-global-issue/

Um es gleich zu sagen: das ist kein „Einzelfall“. Die WHO geht von 39.000 Kinderehen pro Tag aus. Wir MÜSSEN uns zu diesem Thema eine Meinung bilden, sofern wir nicht die Grenzen schließen wollen. Mehr als 1/3 aller Mädchen in den Entwicklungsländern werden als Kinder verheiratet.

Das Possenspiel mag zwar nach den gültigen Gesetzen verhandelt worden sein, aber das hat nichts mehr mit Augenbinde zu tun. Ich glaub auch nicht, dass ein Brett ausreicht, um auf eine solche Sichtweise zu kommen. Möglicherweise wurde ja Holz aus dem Hambacher Wald verwendet.

Danke für’s Lesen.

Euer Christian

#keinPolitiker

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Wir hatten Gerechtigkeit erhofft, doch bekommen haben wir den Rechtsstaat.

In den letzten Tagen wäre ich besser abstinent geblieben. Nicht was Wein, Weib und Gesang angeht – mehr auf die Nachrichten bezogen. Der Prozess um den Kindesmissbrauch in Staufen ist in jeder denkbaren Dimension undenkbar, nicht auszuhalten und lässt mich, wie wahrscheinlich die Meisten, ratlos zurück. Über das Unverständnis, was Menschen anderen Menschen, besonders Kindern, antun können, will ich heute nicht schreiben. Ich will mir auch ersparen, auf die Details der Tat einzugehen, oder die Frage zu stellen, wie es überhaupt so weit kommen konnte. Jeder, der die Abläufe und Hintergründe recherchiert hat, wird wohl wie ich nur schwer Schlaf gefunden haben.

Quelle: Wikipedia

Schreiben will ich lieber darüber, wie wir als Gesellschaft mit diesem Fall umgehen, oder etwas genauer, wie unser Rechtsstaat damit umgeht. Unser Rechtsstaat wird in diesem Fall von Juristen repräsentiert, sowohl auf der Seite des Anklägers als auch bei den Verteidigern und, natürlich, in Form von Richtern. Über Juristen habe ich schon das ein oder andere mal geschrieben. Sie stellen einen Sonderfall in unserem System dar. Sie sind quasi die Einzigen, denen man erlaubt, die Regeln, die das Zusammenleben aller Menschen in diesem Land organisieren sollen, zu interpretieren. Zusätzlich stellen Juristen auch die überwiegende Mehrheit der Bundestagsabgeordneten. Man könnte also sagen, unser Land wird von Juristen gestaltet und gelenkt. Kann man mögen – muss man aber nicht. Möglicherweise gibt es viele Juristen, mit denen man sich gerne umgibt. Ich persönlich hätte aber Mühe, mehr als die Mindestbesetzung für eine Skatrunde zusammen zu bekommen. Das liegt im Wesentlichen an der (häufig) sonderbaren Art, wie sie die Welt sehen und mit ihr umgehen. Besonders wenn es mal nicht so läuft, wie sie es gerne hätten. „Den“ Juristen gibt es sicher nicht – es sind eben Menschen, jeder ist anders. Deswegen müssen wir uns behelfsmäßig Einzelfälle ansehen.

Der Prozess in Staufen ist ohne Zweifel für die Bundesrepublik von besonderer Bedeutung. Deshalb ist es kein Zweifel, dass man in Heidelberg einen erfahrenen Richter den Vorsitz übertragen hat. Über die Vita von Richter Bürgelin konnte ich wenig in Erfahrung bringen, aber ich denke, man hat dort sicher einen der „Besten“ ausgewählt, um dieses Thema zu verhandeln. Missbrauch ist für Richter Bürgelin kein neues Thema. Er hat bereits in einigen anderen Fällen in diesem Themenkomplex geurteilt, zuletzt im Mai 2018, als er einen Soldaten zu 8 Jahren Haft wegen Kindesmissbrauchs verurteilte. Interessantes Detail an diesem Fall: auch hier sah der Richter keine gesetzliche Handhabe, um für den Angeklagten nach der Haft Sicherheitsverwahrung anzuordnen.

Sicherheitsverwahrung ist eine gefährliche Waffe, deren Missbrauch zu Recht durch allerlei Gesetze – auch auf EU Ebene – verhindert werden soll. Trotzdem ist es verfassungskonform, dass man ein Instrument hat, dass es ermöglicht, die Gesellschaft – auch nach dem Verbüßen  einer Freiheitsstrafe – vor einem potentiellen Straftäter zu schützen. Es ist der einzige Fall, in dem eine Person ohne Straftat in Haft gehalten wird.

Auch in Staufen wurde Sicherheitsverwahrung für die Mutter abgelehnt. Sie wurde zu zwölfeinhalb Jahren Haft, wegen schweren sexuellen Missbrauchs, schwerer Vergewaltigung, schwerer Zwangsprostitution, Menschenhandel, sexueller Ausbeutung, Besitz und Herstellung von Kinderpornographie verurteilt. Dazu kommen noch hohe Geldstrafen. Eine Rolle für den Verzicht auf Sicherheitsverwahrung spielte dabei sicher auch der Gutachter Dr. med. Hartmut F. Pleines (Arzt, Facharzt für Psychiatrie & Psychotherapie) aus Heidelberg. Auch dieser Mann ist kein Unbekannter. Dem eifrigen Zeitungsleser ist Herr Dr. Pleines schon häufiger in aufsehenerregenden Prozessen als Gutachter aufgefallen, so z.B. im Prozess gegen Kachelmann, in dem er ein Gutachten ablieferte, ohne direkt mit dem Beklagten zu sprechen.  Bei der Angeklagten Berrin T. hatte er mehr Möglichkeiten. Deshalb konnte er auch detailliert im Gutachten und auch im Gerichtssaal berichten. Es kommt einiges zur Sprache. Der geringe IQ der Angeklagten (62-75), der frühe Tod der Eltern, das Aufwachsen bei den Großeltern, Hauptschulabschluss, aber auch die Aussage, dass es bei Berrin T. in der Kindheit und auch später keine eigenen Erfahrungen mit Missbrauch gegeben hat. Das ist selten, da die meisten Menschen, die Missbrauch betreiben, selber Erfahrungen mit Missbrauch haben. Es gibt auch keine Diagnose in Richtung psychischer Auffälligkeiten. Berrin T. ist gesund. Pleines teilt mit, „Frau T. ist eine Frau, die durchaus auf Zeiten beruflicher Anpassung zurückblicken kann“. Sie habe durchaus stabile Lebensverhältnisse gehabt, sich konstruktiv mit Leistungsträgern und Vermietern gestritten und allen jugendamtlichen Interventionen getrotzt. Stattdessen sei bei Berrin T. von einer Lernbehinderung auszugehen. Er sieht sie jedoch als voll schuldfähig: „Frau T. ist nicht in einem Maße minderbegabt, dass ihr die Einsichtsfähigkeit in ihr Tun fehlen würde“. Erst am Ende des Berichts kommt der Hammer: „Frau T. ist weit von einer eingewurzelten Bereitschaft zu Rechtsbrüchen entfernt“ meint Pleines. Er sieht die Tat den „Umständen“ geschuldet. Aus diesem Grund hält er Sicherungsverwahrung nicht für nötig.

Ich bin sicherlich kein prominenter psychologischer Gutachter wie Herr Dr. Pleines, aber so ein wenig ist aus meinem Psychologiestudium doch hängengeblieben – hauptsächlich was man als Psychologe NICHT mit Sicherheit sagen kann. Selbst wenn die Taten „nur“ den Umständen geschuldet wären, wie kann ich garantieren, dass Berrin T. nicht nach ihrer Entlassung wieder in eine ähnliche Konstellation gerät? Offensichtlich hat es ihr darin so gut gefallen, dass sie bereit war, ihr eigenes Kind zu opfern und selbst der Gutachter sieht kein bis sehr wenig Einsicht in die begangenen Straftaten.

Das Urteil von 12 Jahren ist kein Pappenstiel, trotzdem, es bleibt die Frage, was jemand tun muss, um das mögliche Strafmaß voll auszuschöpfen? Maximal wären 15 Jahre plus anschließende Sicherheitsverwahrung möglich gewesen. Dies ist laut Gesetz bei „schwerster Schuld“ zu verhängen. Wenn man davon ausgeht, dass Richter Bürgelin nach Recht und Gesetz geurteilt hat, muss es ja offensichtlich mildernde Umstände gegeben haben – weswegen nicht das volle Strafmaß verhängt wurde. Das war kein Versehen. Zitat Bürgelin: „Uns ist bewusst, dass die Öffentlichkeit das Urteil als zu milde bewerten wird.“ Ich sehe nicht, was Berrin T. als schuldmindernd gelten machen könnte. Es gibt keine Einsicht, keine nach außen sichtbare Reue, kein echtes Geständnis – immer nur zugeben, was nicht mehr zu leugnen ist – und auch dem Kind wurde eine Befragung durch ein umfassendes Geständnis nicht erspart. Alles Dinge, die bei dem Mitangeklagten zu finden waren – der übrigens eine höhere Strafe erhalten hat.

Scheinbar war für die beteiligten Juristen alles in Ordnung. Selbst die Anklägerin Novak war zufrieden: „…es ist ein guter Tag für den Rechtsstaat. In dem Verfahren konnten alle Beteiligten ihr Gesicht wahren. Wir gehen auseinander und können uns gegenseitig in die Augen sehen. Das erlebt man mit solchen Angeklagten nicht alle Tage.“ Na, dann bin ich ja froh, dass alle so happy sind. Ich bin’s nicht und ich glaube auch nicht, dass dies für das betroffene Kind gilt. Wahrscheinlich werden aus den 12 Jahren bei guter Führung 6 und diese Mutter ist wieder draußen. Dann können die Strukturen wieder wegsehen, die zu diesem Fall geführt haben. Offenbar stimmt die Redewendung wirklich: Auf See und vor Gericht ist alles möglich.

Am Ende fällt mir dazu ein Zitat von Bärbel Bohley ein: „Wir hatten Gerechtigkeit erhofft, doch bekommen haben wir den Rechtsstaat.“

Peace und danke für’s Lesen.

C.

#keinPolitiker