Kategorien
Artikel & Beiträge

Auf der Suche nach Unseresgleichen

Irgendwie schon verrückt. Wir geben das Recht, über wesentliche Aspekte unseres Lebens zu bestimmen, einfach so ab – abgesehen von der Möglichkeit, alle paar Jahre zwischen Pest und Cholera zu „wählen“. Wer hat sich das eigentlich ausgedacht? Klar, Demokratie ist die „gute“ Staatsform. Auch werden wir – z. B. aktuell in Deutschland – immer wieder aufgerufen, die Demokratie zu „verteidigen“. Ist ja im Prinzip ja auch eine gute Idee. Alle dürfen mitbestimmen, bzw. bestimmen, wer bestimmen darf. 

Um einen Vertreter zu wählen, gibt es verschiedene Möglichkeiten. Das haben wir alle schon in der Schule erlebt, als ein Klassensprecher gewählt wurde. Wählen wir den Schlauesten (Streber?), den Coolsten (Blender?), einen Kumpel (Lobbyist?) oder einfach nach Sympathie – was dann u.U. ein individueller Mix von allem ist. Keine leichte Entscheidung. 

In unserer Gesellschaft ist das Wählen einer Elite verpönt. Zu tief stecken die schmerzhaften Erinnerungen des arischen Übermenschen in unseren Knochen, als dass wir mit Eliten noch vorurteilsfrei umgehen könnten. Das es in Deutschland tatsächlich so etwas wie Leistungseliten gibt, halte ich nach der Lektüre aktueller Forschung (z.B. Hartmann), eher für unwahrscheinlich. Es gibt es einen Geldadel oder Bildungsbürgertum. Was die aber so wirklich zum sozialen Wohlstand in Deutschland beitragen – oder auch nicht – wäre eine eigene Geschichte wert.

Eingebürgert hat sich, dass man „einen von uns“ wählt. Kaum ein Politiker, der sich nicht für seine Bürgernähe rühmt, oder quasi „Alles“ über die Nöte des „kleinen Mannes“ weiß. Ob das stimmen kann, lässt sich ja mit einer simplen Analyse feststellen. Zuerst müssen wir zu diesem Zweck einen Durchschnittsdeutschen – quasi Klaus Mustermann – definieren. 

Damit der Text besser lesbar ist, stelle ich die Infografiken, die die entsprechenden Detaildaten enthalten, ans Ende. Alle Infos stammen aus den offiziellen Datenbanken des statistischen Bundesamtes.

An manchen Stellen lauern da ein paar Tücken, z.B. bei der Einkommensbetrachtung. Wenn Deutschland aus 10 Personen bestehen würde und 9 verdienen 2.000€ im Monat, aber einer verdient 1.000.000€, wäre das Durchschnittsgehalt der Deutschen höher als 100.000€ im Monat. So kommt man übrigens auch auf (laut statistischem Bundesamt) ca. 3.500€, die der Durchschnittsdeutsche (brutto) im Monat verdient.

Basteln wir uns also unseren „Musterdeutschen“. Höchstwahrscheinlich wohnt er in Nordrhein-Westfalen (bevölkerungsreichstes Bundesland), irgendwo in der Vorstadt.

In NRW liegt der Stundenlohn im Schnitt bei 21,60€, was dann etwa auf die bereits genannten ca. 3.500€ im Monat (brutto) hinausläuft. Tatsächlich dürfte die Zahl etwas geringer ausfallen. Eine andere Statistik des DeStatis zeigt, dass ein Großteil der steuerpflichtigen Personen bei einem Jahresverdienst zwischen 15.000€ und 37.499€ angesiedelt ist. Nehmen wir davon die Mitte, landen wir bei ca. 26.000€, oder knapp 2.200€ im Monat. Das hört sich dann schon deutlich knapper an, kommt aber offiziellen detaillierteren Statistiken deutlich näher.

Da man über die beiden Werte trefflich streiten kann, nehme ich für unseren Musterdeutschen einfach mal auch hier die Mitte und gehen von einem Einkommen von 2.850€ brutto im Monat aus – was wahrscheinlich aber zu hoch ist.

Die Firmen mit den meisten Arbeitern in Deutschland liegen im produzierenden Gewerbe oder Handel. Herr Mustermann ist also wahrscheinlich Fabrikarbeiter oder Verkäufer.

Höchstwahrscheinlich hat Herr Mustermann eine Berufsausbildung ohne Studium absolviert, bevor er im Berufsleben durchgestartet ist.

Nur ca. 40% der Menschen in Deutschland haben Wohneigentum. Herr Mustermann wohnt also zur Miete. Ziemlich sicher empfindet er die Wohnkosten als Belastung.

Außerdem ist der gute Herr Mustermann zwischen 40 und 60 Jahren alt, heterosexuell, verheiratet oder geschieden und hat 1,6 Kinder, na gut, sagen wir 2. Damit können wir von einem 4 Personenhaushalt ausgehen. Wenn Herr Mustermann eine gleichaltrige Frau geheiratet hat, wird diese zu ca. 70% auch arbeiten – viele davon allerdings nicht in Vollzeit. 

Das bedeutet in Kurzform also: 

40- 60 Jahre, ca. 2.850€ brutto – und damit rund 2.100€ netto-  verheiratet bzw. geschieden, 1-2 Kinder, wohnt zur Miete irgendwo in der Vorstadt, hat eine Lehre gemacht und verdient jetzt sein Geld in der Fabrik oder im Handel.

Das wäre also ein typischer Bürger, der von „seinesgleichen“ im Bundestag vertreten werden soll. Welche bzw. wie viele unserer Volksvertreter haben wohl einen ähnlichen Hintergrund und können damit fundiert über die Sorgen und Nöte der Bevölkerung sprechen? Leider fehlt die Zeit für eine Analyse aller Bundestagsabgeordneten. Schauen wir uns stattdessen einfach mal unsere Minister an.

Quelle: Wikipedia – Irrtum vorbehalten

Beim Einkommen lassen sich da schon mal kaum Gemeinsamkeiten zu Herrn Mustermann finden. Der Einfachheit halber ohne die – durchaus erheblichen – Zuschläge gerechnet, bekommt Frau Merkel 18.851€ im Monat und die Minister 15.311€. Das finde ich okay. Immerhin ist es ein Job mit viel Verantwortung und Arbeitsstunden. Spannend finde ich es allerdings, dass wahrscheinlich keiner mit seinem erlernten Job auch nur in die Nähe dieser Summen gekommen wäre – insbesondere, weil für fast alle der Start in die Berufspolitik schon oft kurz nach Studienabschluss erfolgte. So ist z.B. Herr Spahn nach seiner Banklehre fast unmittelbar in die Berufspolitik gewechselt und hat dann nebenbei studiert. Kommt bei Ministern scheinbar sowieso häufig vor: nebenbei studieren. Respekt. Ein ausgefülltes politisches Berufsleben, oft Familie und dann noch Studium und häufig Promotion. Kommt da vielleicht irgendwas zu kurz?

Von der Expertise handelt es sich in der Mehrzahl um Anwälte (zu den Berufen der Bundestagsabgeordneten habe ich bereits im Beitrag „Demokratie 2.0„) oder um Menschen, die Politik studiert haben – was wird man damit eigentlich in der freien Wirtschaft?

Wie man sieht, können die (meisten) Minister die echten Lebensumstände des „kleinen Mannes“ aus eigener Erfahrung nicht kennen. Sie sind mit einem kurzen oder nicht vorhandenen Gastspiel direkt in die Welt von Verbänden, Beamten oder Funktionären abgetaucht, bevor es dann in die Profi-Liga der Politik ging.

Das sind die „Volksvertreter“ in Deutschland.

Demokratie in Deutschland bedeutet also, dass der normale Bürger sein Recht auf Selbstbestimmung weitestgehend abgibt, um alle 4 Jahre zu wählen. Ein Großteil der zur Auswahl stehen Parteien unterscheiden sich nur auf dem Papier. Mit dem Ergebnis werden dann Koalitionen gebildet, obwohl der Wähler nur eine einzelne Partei gewählt hat. Diese Koalition erstellt dann ein Kompromiss-Programm und stellt die Bundeskanzlerin. Die wählt dann ihrerseits die Minister aus. Diese Minister haben mit dem Durchschnittsdeutschen quasi nichts gemein und stehen dann einem Ressort vor, von dem sie keine Ahnung haben bzw. das wahrscheinlich nicht ihrer Ausbildung entspricht. Dafür bekommen sie dann ein Spitzengehalt und zahlen weder in die Renten- noch Arbeitslosenversicherung , etc. ein.

Irgendwie hört sich Demokratie nach dieser Beschreibung nicht mehr so attraktiv an, aber wir dürfen nicht ihr die Schuld geben. Wir haben nämlich zugelassen, dass sie schon vor langer Zeit entstellt und kastriert wurde. Es ist mehr so eine Art Pseudo-Demokratie, die den Anschein erweckt, dass hier doch alles in Ordnung ist während die Oligarchen, Konzerne und Erben entspannt in die Zukunft schauen können.

Das muss nicht so bleiben. Allerdings ändern wir das politische System – in der jetzigen Parteienlandschaft – nicht mit Wahlen. In Frankreich sieht man im Moment mit den Gelbwesten, wie wirkungsvoll ein Bürgerprotest sein kann. Nun ist Deutschland nicht Frankreich und ein echter Deutscher nimmt nur an einer Revolution teil, wenn sie im Fernsehen übertragen wird und Günther Jauch moderiert. Bisher wenigstens. Aber das könnten wir ändern.

Τhukydides schrieb in der Geschichte des Peloponnesischen Bürgerkrieges „Tue der Starke, was er könne, und erleide der Schwache, was er müsse“. Die Politik hat hier die Rollen vertauscht und uns zu Schwachen gemacht die erleiden müssen, was die Starken sich ausdenken. Tatsächlich sind es aber nur Scheinriesen, die heute die Kontrolle ausüben. Was uns fehlt ist nur der Funke, der die Wut der Bürger entzündet, damit sich die wahren Kräfteverhältnisse offenbaren.

Wenn wir uns auf Politiker und Parteien verlassen, haben wir nichts Besseres verdient.

Danke fürs Lesen.

Euer Christian
#keinPolitiker

Kategorien
Artikel & Beiträge

Das Rezept für Veränderung

Es wird Zeit, dass sich etwas ändert. Dieser Satz wurde wahrscheinlich schon zu allen Zeiten und von jedweder politischen Couleur vorgebracht. Trotzdem sind tatsächliche Änderungen, man könnte sie auch Revolutionen nennen, eher selten. Obwohl der Wunsch so häufig präsent ist, gelingt es den wenigsten Initiativen, echte Änderungen anzustoßen. Wieso eigentlich? Was ist das Rezept für Veränderung? Wie funktioniert sie?

Ich begebe mich heute beim Schreiben des Artikels auf ziemlich dünnes Eis. Nicht zuletzt, weil einige Thesen dazu einladen, falsch (als Populismus) verstanden zu werden. Trotzdem will ich den Versuch wagen. Wie mittlerweile viele meiner Leser wissen, bin ich seit einiger Zeit bei #aufstehen aktiv. Die Bewegung wird auch in diesem Text eine wichtige Rolle spielen, aber es ist mir wichtig, dass ich das hier nicht als #aufstehen-Aktivist schreibe. Ich bin sogar sicher, dass es nicht wenige Menschen bei #aufstehen gibt, die meine Ansichten überhaupt nicht teilen. Auch das finde ich gut. #aufstehen ist nicht zentral gleichgeschaltet und hält unterschiedliche Meinungen aus.

Schauen wir uns also an, wie Veränderung funktioniert. Am besten auf einer ganz persönlichen Basis, nämlich für einen einzelnen Menschen. Was muss passieren, bevor jemand sein Verhalten ändert?

Eine Verhaltensänderung bedarf einiger Voraussetzungen bzw. das richtige Verhältnis der einzelnen Parameter zueinander. Eine wichtige Rolle spielt dabei der Leidensdruck, der Krankheitsgewinn sowie das Know-How, wie eine Änderung aussehen könnte bzw. wie diese zu bewerkstelligen ist.

Nehmen wir als Beispiel das Rauchen. Hier wäre z.B. der Leidensdruck, die Angst um die eigene Gesundheit oder auch die Kosten. Der Krankheitsgewinn ist in diesem Kontext die beruhigende Wirkung des Rauchens, das Gefühl der Geselligkeit oder Lässigkeit und vielleicht auch eine entsprechende Gruppenzugehörigkeit, etc. Das Änderungswissen könnte z.B. das Wissen um eine entsprechende Entzugsmethode sein oder auch die Erkenntnis, dass man schon erfolgreich einen „kalten“ Entzug geschafft hat. Das Änderungswissen kann jedoch nur wirksam werden, wenn der Leidensdruck deutlich größer als der Krankheitsgewinn ist. Es hilft z.B. überhaupt nichts, eine völlig problemlose und einfache Methode zur Entwöhnung zu kennen (falls es so etwas gibt), wenn der Krankheitsgewinn den Leidensdruck übersteigt. Dies ist gerade bei Rauchern oft der Fall, da eine abstrakte gesundheitliche Gefahr, die irgendwann in der Zukunft eintreten kann, im Vergleich zu dem sofortigen Lustgewinn des Rauchens einfach nicht überwiegt. Hierzu ist die Fähigkeit zum Belohnungsaufschub wichtig, der bei Menschen unterschiedlich stark ausgeprägt ist (aber auch lernbar ist – hier setzt häufig Therapie an). Wird jetzt z.B. eine beginnende Krebserkrankung diagnostiziert, kehrt sich bei vielen Menschen das Verhältnis sofort um, und es wird unmittelbar mit dem Rauchen aufgehört. Leider jedoch oft zu spät.  In die schöne und kurze Sprache der Mathematik verpackt würde es wohl ungefähr so aussehen:

Die Signum-Funktion „Sig()“ sorgt in diesem Fall dafür, dass nur bei überwiegenden Leidensdruck das Änderungswissen wirksam werden kann (und es sieht natürlich auch viel wissenschaftlicher aus!).

Das Schöne an diesem Konzept ist, dass es sowohl bei einzelnen Individuen als auch bei größeren Gruppen, ja sogar bei ganzen Gesellschaften funktioniert. Es findet sogar auch bei der Beurteilung von Märkten in Volkswirtschaften – etwas modifiziert – seine Anwendung.

Wenn wir also Veränderung in unserer Gesellschaft wollen, wie können wir diese Erkenntnis nutzen? Schauen wir dazu kurz in unsere eigene nationale Geschichte.

Die letzte gesellschaftliche Revolution in der Bundesrepublik war Ende der sechziger Jahre zu beobachten. Ich nehme hier bewusst nicht die deutsche Wiedervereinigung als Beispiel, weil es in diesem Fall einige Besonderheiten gab, die den typischen Prozess etwas verdeckten.

Das Erbe der 68er – mittlerweile 50 Jahre her – war der Aufbruch in eine aufgeklärtere, offenere und freiere Gesellschaft. Diese Entwicklung war zunächst getrieben von intellektuellen Debatten eng umrissener Eliten (Studenten, Journalisten, etc.) und wirkte doch am Ende über einen einzigen Schlüsselbegriff: Freiheit. Dieser Schlüsselbegriff wurde von einer breiten Bevölkerungsschicht adaptiert und mit einem persönlichen Freiheitsbegriff gefüllt. Es gab plötzliche die sexuelle Selbstbestimmung, Emanzipation, das Erstarken der Gewerkschaften, Abkehr von den Zwängen der Religion (Kirchensterben) und vieles mehr. Es dauerte mehrere Dekaden, bis wir – irgendwann in den späten 80er Jahren – tatsächlich eine modernere, freiheitliche und liberale Gesellschaft etabliert hatten. Auch damals lag ein Geheimnis des Wechsels in der Zahl. Es war eine breite Allianz, quer durch alle Gesellschaftsschichten. Trotzdem war die Gegenwehr eines relativ kleinen Establishments aus Wirtschaft und Politik erbittert und zäh.

Irgendwann in den neunziger Jahren begann sich das Blatt zu drehen. Auch hier ging es wieder um Freiheit, jedoch geht es beim Neoliberalismus um die Freiheit der Konzerne, nicht die der Bürger.

Der Wunsch nach Freiheit war in den Sechzigern und Siebzigern die treibende Kraft. Auch heute ist Freiheit sicherlich eine wichtige Größe, aber ich denke, dass andere Faktoren heute mindestens genauso bestimmend, wenn nicht entscheidend sind.

Ganz vorne steht das Bedürfnis nach Selbstwirksamkeit, d.h. meine Handlungen machen einen Unterschied und ich habe mein Leben (weitgehend) selbst unter Kontrolle. Diese fehlende Selbstwirksamkeit ist es, die zu geringen Wahlbeteiligungen bzw. Politikverdruss führt. Es ist egal was ich wähle, es kommt sowieso immer das Gleiche heraus. Man kann den Effekt gut bei sogenannten „Schicksalswahlen“ sehen, wo es um ganz konkrete, kurzfristig eintretende Wirkungen geht, z.B. die Landtagswahl im Saarland, die gleichzeitig auch Lafontaine implizit zum Kanzlerkandidaten der SPD machte, oder die aktuelle Landtagswahl in Bayern, bei der es darum ging, „die AfD zu verhindern“. Es gab immer eine deutliche höhere Wahlbeteiligung, wenn ein direktes, kurzfristiges emotionales Ziel verknüpft war.

Auf der anderen Seite steht der Wunsch nach Sicherheit, und damit eng verknüpft ist das Maß an Vertrauen, dass ich an einen gewählten Anführer habe. Eine Größe, die man heute eher mit dem Mikroskop messen muss.

Wie wir aus dem oben erklärten Mechanismus eines Änderungsprozesses gesehen haben, sind diese Wünsche, in der Formel „Leidensdruck“ genannt, relativ abstrakter Natur. Es ist zunächst nichts, was man in einer parteipolitischen Debatte oder einem Parteiprogramm finden würde. Selbstverständlich muss man ab einem bestimmten Zeitpunkt überlegen, wie man solch ein abstraktes Ziel realisieren kann, aber zunächst wird das Handeln der Menschen von einem Teil ihres Gehirns bestimmt, der weder Ratio noch Sprache kennt. Revolutionen beginnen im Herz, nicht im Kopf. Ein rein intellektueller Ansatz wird immer zum Scheitern verurteilt sein. Das zeigt zum Beispiel auch die Volkswirtschaftslehre. Deren Thesen und Konzepte beruhen im Wesentlichen auf einem Homo oeconomicus, einem Nutzenmaximierer, der zutiefst logisch und rational handelt. Wie sich jedoch im Laufe der Jahre gezeigt hat, gibt es diesen Menschen nicht, und sehr häufig sind deshalb die Prognosemodelle einfach falsch.

Alle höheren Funktionen unserer Wahrnehmung dienen im Prinzip nur dazu, den Entscheidungen, die aus der Tiefe unseres Gehirns kommen, die Erklärung zu geben, die wir für das unverzichtbare Gefühl der Selbstwirksamkeit und Erkenntnis brauchen.

Es ist also wesentlich, die Emotionen eines Menschen zu erreichen, wenn man Veränderung will. Unglücklicherweise liegt hier (paradoxerweise) genau die Schwäche der „Linken“ und die Stärke der „Rechten“. Die Linken sollten begreifen, dass die Rezepte zur Veränderung aus den 68igern heute nicht mehr funktionieren. Es hat einfach keine Intellektualisierung der Gesellschaft stattgefunden, die die bisherigen Konzepte und Ansätze aber benötigen würden. Das Ergebnis sind endlose, ideologische Statements – immer mit einem Hauch vom Kantschen Imperativ – die man z.B. bei facebook dadurch erkennt, dass man sie minutenlang scrollen muss, um sie ganz zu lesen. Wir könnten jetzt die geringe Aufmerksamkeitsspanne oder das mangelnde Interesse beklagen. Es ändert aber die Realitäten nicht! Wer Veränderung will, muss die Menschen da abholen, wo sie sind – nicht wo wir sie gerne hätten. Diese Erkenntnis hat nichts mit Arroganz oder Snobismus zu tun. Es ist schlicht die Anerkennung der Lebensumstände der meisten Menschen. Eine Krankenschwester würde ein langes Parteiprogramm genauso verstehen – wahrscheinlich noch besser als Herr Spahn, da sie die Lebensrealitäten hinter den Themen aus eigener Erfahrung kennt – wie ein promovierter Politikwissenschaftler oder Journalist. Es ist nur unrealistisch und auch unfair anzunehmen, dass sie nach einem harten Arbeitstag, im Schichtdienst und am Wochenende für einen Hungerlohn dafür noch die Energie hat.

Die bisherigen „Aktivisten“ sind mehrheitlich „politische“ Menschen, mit denen die neuen Mitglieder von #aufstehen, die oft zum ersten Mal wirklich politisiert sind, häufig fremdeln. Ich bin aber guter Hoffnung, dass die Polit-Novizen bald in der Mehrzahl sein werden. Die Gründungsversammlung von #aufstehen Rheinland-Pfalz war dafür ein gutes Beispiel. Das Treffen wurde zwar von der „Zentrale“ angeregt, Inhaltlich wurde es aber vollkommen frei von den Interessenten bestimmt. Es waren nur wenige in Parteien organisierte Menschen gekommen und selbst diese traten ausdrücklich als Bürger und nicht als Parteisoldaten an. Damit es so bleibt, sollte #aufstehen es als Verpflichtung ansehen, sich auf die Bedürfnisse dieser neuen Mitglieder einzustellen und nicht unausgesprochen fordern, dass sie 30 Jahre (oder mehr) Auseinandersetzung mit parteilicher Programmpolitik in Rekordzeit nachholen, bevor sie ernst genommen werden. Am Ende sind sie – die Politikneulinge – es nämlich, die die Veränderung ermöglichen. Nicht diejenigen, die sich für eine Art Elite halten, weil sie seit 1972 ein Spiegel-Abo haben, regelmäßig an Demos teilnehmen und eine Art Paternalismus für die politisch Unerfahrenen für geboten halten.

Mit Politsprech kann man die Menschen nicht erreichen. So wäre z.B. #aufstehen gut beraten – auch um sich von den üblichen Politikbetrieb abzugrenzen – ein eigenes Vokabular zu benutzen. Soziale Gerechtigkeit ist ein politischer Kampfbegriff. Beim Grillen mit (unpolitischen) Freunden oder in der Kneipe wäre aber wahrscheinlich eher von Fairness die Rede. Lasst uns Alltagssprache verwenden – keine Politikparolen.

Unglücklicherweise scheint es nur die AfD zu sein, die das Konzept von der emotionalen Erreichbarkeit der Bürger als einzige verinnerlicht hat. Die AfD diese Mechanismen längst erkannt und agiert wesentlich geschickter als die etablierten Parteien.

Ein gutes Beispiel auf der anderen Seite war die #unteilbar Demo in Berlin. Rund 250.000 Menschen versammelten sich hinter einem relativ unscharfen Motto. Es war so unscharf, dass sogar Feministinnen neben konservativen Anhängern des Islam laufen konnten. Es war außerdem ein Motto, das eigentlich niemand ablehnen oder schlecht finden kann. Leise Kritik, an den dahinter stehenden Forderungen, z.B. offene Grenzen für Alle, wurde sofort von einer breiten Öffentlichkeit abgestraft. Dank des guten Wetters war es am Ende mehr ein Volksfest als Demo und jeder konnte guten Gewissens seine eigene Idee von #unteilbar feiern. Ich bin mir aber ziemlich sicher, dass es bei Diskussionen der politischen Details einer möglichen Umsetzung zwischen den Teilnehmern relativ schnell zu klaren Differenzen gekommen wäre.

Es gibt mehr zu gewinnen (und zu verlieren) als den Kampf gegen Rechts. Die politische Linke hat aber bereits begonnen, sich selbst zu zerfleischen. Was bringen gemeinsame Demos von CDU, SPD, Gewerkschaften, Linken, AntiFa, etc. gegen Rechts wenn am Ende doch Merkel (oder ein anderer Fürsprecher des Neoliberalismus) auf dem Kanzlerstuhl bleibt? Außerdem hat dies bisher auch den Aufstieg der Rechten nicht verhindert und ich halte es für schlicht unlogisch, dass mehr Kampf das Problem löst. Nicht bei einem Anteil der AfD Sympathisanten in Deutschland, der im Schnitt irgendwo zwischen 20 und 30% liegen dürfte. Gerade in diesem Moment sehe ich die AfD bei der Landtagswahl in Bayern bei 11% in der ersten Hochrechnung. Sie ist damit stärker als die SPD und hat aus dem Stand 11% erreicht und hat damit weit mehr Zugewinne als alle anderen Parteien, außer den Grünen, die wahrscheinlich einfach Gewinner ihrer Nicht-Fisch-Nicht-Fleisch Politik geworden sind.

Mein Mangel an Kampfeswille gegen Rechts hat aber nichts mit Appeasement zu tun. Angriffen auf Rechtsstaat und Verfassung muss deutlich entgegen getreten werden. Ich will aber keinen „Bürgerkrieg“ in Deutschland, während sich Politik und Wirtschaft auf die Schenkel klopfen, weil wir sie im Kampfgetümmel wieder aus den Augen verloren haben.

Dem Establishment, sowohl in der Politik als auch in der Wirtschaft, ist die Gefährlichkeit von #aufstehen wohl bewusst – deswegen gibt es eben von diesen Seiten auch so wenig Zustimmung bzw. so viel Gegenwehr, Abwertung und Verleumdung.

Die häufigste Abwertung besteht darin, dass #aufstehen im Moment eher eine Art Mailingliste ist und verkennt dramatisch (oder verschweigt bewusst), wie wichtig ein solches Medium ist. In der Wirtschaft werden nicht umsonst riesige Summen von einer ganzen Industrie verlangt, die Firmen schlicht dies zur Verfügung stellt. Auch das Thema Big Data– eine ziemlich ausgefuchste Form von Datensammeln – dient letztlich nur einem Zweck: die Entscheidungen von Menschen zu beeinflussen – durch bessere Erreichbarkeit mit der jeweiligen „Nachricht“. Der Eintrag in einen Newsletter von #aufstehen von großen Teilen der Bevölkerung ist weit mehr aktive Beteiligung, als die etablierten Parteien verbuchen können. Es macht #aufstehen weiterhin unabhängig von externen Beurteilungen, z.B. durch andere Parteien via Presse. #aufstehen kann mit Nachrichten schnell, billig und einfach die Massen adressieren. Man muss aber auch dafür sorgen, dass die Nachrichten so formuliert sind, dass sie die Herzen der Empfänger erreichen.

Wenn dies gelingt, stellt #aufstehen genau den Faktor dar, der bei unserer Formel für Änderung bisher noch nicht abgedeckt war: das Änderungswissen, d.h. das Know-How, wie man entsprechende Veränderungen in der Praxis durchführen kann.

Und jetzt hätten wir bei unserer Formel alle Spieler auf dem Platz.

Den Leidensdruck – der ohne Zweifel in der Breite der Bevölkerung vorhanden ist – erreichen wir durch eine lebensnahe, emotionale Adressierung, und nicht durch endlose Parteiprogramme oder intellektuelle Arbeitskreise. Am besten auch durch Gesichter, die noch nicht in der Politik verbraucht sind. Menschen, die über Erfahrungen aus der realen Welt verfügen, im Leben auch schon Niederlagen einstecken mussten, und wissen, was es heißt, heute eine Familie mit Erwerbsarbeit durchzubringen. Das Ganze kann durch das Entstehen von #aufstehen entsprechend kanalisiert werden und liefert die notwendige Infrastruktur für weitreichende, konsensgetriebene Veränderung. Bliebe noch der „Krankheitsgewinn“. Genau an dieser Schraube dreht im Moment das wirtschaftliche und politische Establishment, diesmal in Form von negativer Verstärkung. Es könnte schon fast ein Beispiel aus der Konditionierungstheorie sein. Wehe, wenn ihr etwas ändert, dann verliert ihr euren Job, die Rechten übernehmen die Macht, … hier beliebige Angst einsetzen.

Was wäre also mein Rat an #aufstehen? Bleibt so lange wie möglich eine Bürgerbewegung und wachst so schnell ihr könnt! Es ist kein Fehler, auch Arbeitskreise zu haben, die sich mit politischen Detaillösungen beschäftigen, aber im Moment ist das noch nicht zwingend notwendig. #aufstehen muss wachsen und dafür reicht es, wenn wir uns auf die Emotionen der Menschen konzentrieren. Die Gründungserklärung ist die Basis, mit der bisher alle „Aufständischen“ einverstanden waren. Diese Inhalte transportiert man aber nicht über im Detail ausgearbeitete Programme in die breite Bevölkerung. Ich gehe davon aus, dass für die meisten Menschen in Deutschland der Gründungsaufruf von #aufstehen schon genug Infos enthält, um eine Entscheidung zu treffen. Wohlgemerkt, ich rede hier nicht von den „Aktivisten“, die ihr ganzes Leben schon politisch stark engagiert waren. Wenn wir einen echten Wandel wollen, brauchen wir im wesentlichen „Karl Mustermann“ und seine Frau und Kinder – den durchschnittlichen (im besten Sinne) Deutschen. Natürlich ist es sinnvoll, die Programme im Detail auszuarbeiten, um im Ernstfall wirklich handlungsfähig zu sein. Mit dem Wandel an sich haben diese Programme aber nichts zu tun. Geht lieber so schnell wie möglich mit den Ideen der Gründungserklärung auf die Straße, um damit Mitstreiter zu werben.

Für viele der älteren „Aufständischen“ ist die starke Konzentration auf digitale Medien bei #aufstehen sicherlich schwierig zu akzeptieren. Einerseits einer der N°1 Jobkiller, sollen hier plötzlich die gleichen Instrumente genutzt werden. Das ist verständlich, aber es ist letztendlich die Frage, was mit dem Werkzeug gemacht wird. Mit einem Hammer kann ich ein Haus bauen oder einen Kopf einschlagen. Ein Wesenszug der Linken war von jeher die Aufgeschlossenheit gegenüber Neuem. Das sollte man sich  zunutze machen. #aufstehen hat – wie es auf Neudeutsch so schön heißt – Momentum. Jetzt muss man dran bleiben! Das Internet wird dabei für #aufstehen eine zentrale Rolle spielen. Die ersten hochgeladenen Videos zeigten schon den richtigen Weg. Influencer– nicht (nur) aus der Politik – erreichen andere Bürger mit emotionalen, persönlichen Stellungnahmen. Besonders in der frühen Phase, in der sich #aufstehen jetzt befindet, ist die Verletzlichkeit gegen Entwicklungen von Innen am größten. #aufstehen darf kein Intellektuellenclub der „üblichen Verdächtigen“ werden. Keine endlosen, selbstzerfleischenden Grundsatzdiskussionen, kein Politikgeschwurbel oder seitenlange Statements. Kein Hoffen auf „Verbündete“ aus anderen Parteien oder Interessengruppen. Es gibt einen Grund, warum die meisten neuen Aufständischen bisher in keiner Partei oder anderen Interessengruppe aktiv waren.

Ich bin sicher, viele Leser werden jetzt skeptisch oder angewidert denken, dass ich nur inhaltsloses Marketing propagiere. So ganz falsch ist das nicht. Man kann entweder für einen reale oder einen perfekte Welt Politik machen. Im zweiten Fall wird man allerdings in der realen Welt einen – wenn auch moralisch einwandfreien – Politiktod sterben. Ich bin sicher, wir benötigen modernstes Marketing um gegen den „Krankheitsgewinn“ – um bei unserer Formel zu bleiben – bestehen zu können. Die andere Seite wird sich nämlich sicher nicht selbst zensieren und darauf verzichten. Ich würde es aber nicht als inhaltsleer bezeichnen, sondern vielmehr als ein Skelett, auf dem die Bewegung dann Schritt für Schritt aufbaut – z.B. wenn sich die ersten „Aufständischen“ als freie Direktkandidaten bei Wahlen stellen. Auf diese Weise muss #aufstehen noch nicht mal eine Partei werden und kann trotzdem Politik aktiv beeinflussen.

Die Menschen sind bereit für einen Wechsel. Lasst uns ihnen jetzt den Rahmen dafür geben. Laden wir sie zu #aufstehen ein. Es wird kein leichter Marsch und die Gegenwehr wird hoch sein. Trotzdem bin ich dieses eine Mal zuversichtlich. Es ist egal, wie oft und konsequent man die Triebe zurück schneidet. Man kann den Frühling nicht verhindern, wenn seine Zeit gekommen ist.

Danke fürs Lesen.

Euer Christian

#keinPolitiker

Kategorien
Artikel & Beiträge

Trägt Justitia eine Augenbinde oder ein Brett vorm Kopf?

Von Maarten van Heemskerck, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=11975108

Jeder hat das Bild der Göttin Justitia mit ihren verbunden Augen und der Waage schon gesehen. Sie gilt gemeinhin als Symbol für „Gerechtigkeit“ und die Augenbinde soll unterstreichen, dass sie gerecht – ohne Ansehen der Person, um die es geht – für jedermann gleich entscheidet. Im Gegensatz dazu kann man auch mit einem Brett vorm Kopf blind sein, nur dass sich diese Version hauptsächlich dadurch auszeichnet, dass man auf seinem Standpunkt (oder Gesetzen) beharrt, obwohl gute Gründe dafür bestehen, dies nicht zu tun.

Um eine Antwort auf die Frage zu erhalten, ob es sich bei Justitia um eine Augenbinde oder ein Brett handelt, könnten wir uns Fälle aus der aktuellen Rechtsprechung ansehen. Dass ich selbst kein Jurist bin, würde ich in diesem Fall nicht als Nachteil ansehen. Eher als Benchmark- Test, inwieweit ein Durchschnittsbürger die Frage nach Brett oder Augenbinde wohl beantworten würde. Das Beispiel (Artikel des Deutschlandfunks im Link), das ich mir ausgesucht habe, ist der Fall der aus Syrien geflüchteten A. (geboren am 01.01.2001), die zusammen mit ihrem Ehemann (und Cousin) H. (geboren am 01.01.1994) im Spätsommer 2015 in Deutschland ankam. Wenn wir mal den (merkwürdigen) Zufall beiseite lassen, dass beide am gleichen Tag Geburtstag haben (ist das wirklich das Geburtsdatum/Jahr?), stellen wir einen gewissen Altersunterschied fest – was erst einmal nichts schlimmes wäre. Tatsächlich war die kleine A. am Tag ihrer Eheschließung aber erst 14 Jahre alt. Es handelt sich also um eine sogenannte Kinderehe.

Hier in Deutschland gab es dann natürlich Probleme, da eine Ehe in diesem Alter nach deutschem Recht nicht möglich ist – schon gar nicht, wenn der Ehemann bereits volljährig ist. Tatsächlich griff das Jugendamt ein und nahm A. in Obhut und ein Vormund wurde bestellt.

Und dann kam Justitia auf Touren. Um es kurz zu machen: das OLG Bamberg sprach im Beschluss vom 12.05.2016 unter dem Zeichen 2 UF 58/16 f folgendes Urteil (kompletter Text im Link):

  1. Dem einem minderjährigen Verheirateten bestellten Vormund kommt wegen §§ 1800, 1633 BGB keine Entscheidungsbefugnis für den Aufenthalt des Mündels zu. Dies gilt auch hinsichtlich wirksam verheirateter minderjähriger Flüchtlinge, wenn nach dem Recht des Herkunftsstaates insoweit ebenfalls keine elterliche Sorge besteht (Art. 15, 16, 20 KSÜ). (amtlicher Leitsatz)

 

  1. Eine in Syrien nach syrischem Eheschließungsrecht wirksam geschlossene Ehe einer zum Eheschließungszeitpunkt 14-Jährigen mit einem Volljährigen ist als wirksam anzuerkennen, wenn die Ehegatten der sunnitischen Glaubensrichtung angehören und die Ehe bereits vollzogen ist. (amtlicher Leitsatz)

 

  1. Die Unterschreitung des Ehemündigkeitsalters des § 1303 BGB bei einer Eheschließung im Ausland führt selbst bei Unterstellung eines Verstoßes gegen den ordre public (Art. 6 EGBGB) nicht zur Nichtigkeit der Ehe, wenn nach dem für die Eheschließung gem. Art. 11, 13 EGBGB anzuwendenden ausländischen Recht die Ehe bei Unterschreitung des dort geregelten Ehemündigkeitsalters nicht unwirksam, sondern nur anfechtbar oder aufhebbar wäre. (amtlicher Leitsatz)

Wem das Ganze etwas zur verschwurbelt ist, hier eine kurze Zusammenfassung:

  1. Es gibt keinen Vormund/Beistand/Schutz des Jugendamtes für die minderjährige Ehefrau.
  2. Da es in Syrien legal ist, eine 14-jährige zu heiraten und mit ihr Sex zu haben, ist es auch hier legal.
  3. Selbst wenn es in Syrien nicht legal wäre, bliebe es hier so lange legal, bis die Ehe in Syrien annulliert würde.

Und spätestens hier bin ich sehr skeptisch, ob die Augenbinde nicht vielleicht doch ein Brett ist!

Schauen wir uns die Folgen einmal genauer an. In der Urteilsbegründung wird von einer realen Liebesbeziehung zwischen den Ehepartnern ausgegangen. Es wird keinerlei Zwang vermutet. Das Jugendamt sah allerdings bei A. ein „noch eher kindliches bis jugendliches Verhalten und füge sich im Ergebnis den Erwartungen ihrer Familie und des Beteiligten H. (der Ehemann)“. Außerdem wurde befürchtet, dass A. schnell schwanger werden könnte, da Sex ohne wirksame Verhütung praktiziert werde. Ausgehebelt wurde das Ganze von einem Verfahrensbeistand. Leider gibt das Urteil keinen Aufschluss über den Beistand, aber es handelt sich in den meisten Fällen um Juristen. Die bestellte Verfahrensbeiständin (eine Frau!) sah aber in der Betreuung des Jugendamts und den stattfindenden beaufsichtigten Treffen der Ehepartner im Wesentlichen ein Integrationshindernis. Ob es der Vorgang war, der die Dame so mitgenommen hat oder nicht – im weiteren Prozess konnte die Dame aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr auftreten. Es wurde eine Kollegin verpflichtet – wieder eine Frau. Auch sie teilte die Auffassung, dass es keinerlei Druck gab bzw. gegeben hätte und im übrigen die Ehe in Syrien völlig „normal“ wäre. Das Jugendamt blieb bei seiner gegenteiligen Auffassung. Am Ende zog Ehemann H. – mittlerweile 21 mit seiner Gattin A. (15 Jahre) als anerkanntes Ehepaar von dannen. Über das weitere Schicksal von A. ist mir bisher nichts bekannt.

Die Richter entschieden tatsächlich – soweit ich das beurteilen kann – auf der Basis gültiger Gesetze.

Was bedeutet das für uns? Zunächst erlauben wir dadurch ganz offiziell, dass ausländische Regelungen unsere Gesetze aushebeln dürfen. Wir erlauben also ausländischen Staatsbürgern, in Deutschland Gesetze zu ignorieren, an die wir uns alle halten müssen. Wenn es also, z.B. nach bestimmten religiösen oder kulturellen Gegebenheiten irgendwo möglich ist, dass eine 12-jährige einen 52-jährigen heiratet (was es tatsächlich gibt) und die beiden sich entschließen nach Deutschland zu kommen, ist das kein Problem. Die nächste Frage ist, gilt das dann auch für andere Kontexte? Wenn anderswo das Schlagen der Ehefrau erlaubt ist, gilt das dann hier auch? Gibt es überhaupt einen Kinder- bzw. Jugendschutz für ausländische Kinder in Paarbeziehungen?

Außerdem, wie erklären wir den Bürgern, dass es jetzt plötzlich 2 Klassen von Menschen in Deutschland gibt? Diejenigen, die unter dem Schutz bzw. Aufsicht der Gesetze stehen und die, für die das nicht gilt?

Wie können wir im Ernst annehmen, die Verheiratung einer 14-jährigen erfolgt aus dem reinen und erwachsenen Willen der Braut – egal in welcher Kultur? Wo sind denn eigentlich jetzt die Aufschreie der ganzen Feministinnen oder Feministen? Reicht es, wenn im Urteilstext korrekt gegendert wird? Reicht unsere Empörung über sexuelle Belästigung, um ein Gedicht von einer Hauswand löschen zu lassen, weil der Begriff „Frau“ darin vorkommt, aber nicht, um ein real existierendes Mädchen von 15 Jahren zu schützen?

https://www.girlsglobe.org/2013/04/15/child-marriage-a-global-issue/

Um es gleich zu sagen: das ist kein „Einzelfall“. Die WHO geht von 39.000 Kinderehen pro Tag aus. Wir MÜSSEN uns zu diesem Thema eine Meinung bilden, sofern wir nicht die Grenzen schließen wollen. Mehr als 1/3 aller Mädchen in den Entwicklungsländern werden als Kinder verheiratet.

Das Possenspiel mag zwar nach den gültigen Gesetzen verhandelt worden sein, aber das hat nichts mehr mit Augenbinde zu tun. Ich glaub auch nicht, dass ein Brett ausreicht, um auf eine solche Sichtweise zu kommen. Möglicherweise wurde ja Holz aus dem Hambacher Wald verwendet.

Danke für’s Lesen.

Euer Christian

#keinPolitiker

Kategorien
Artikel & Beiträge

Das Deutschland der Sitzenbleiber

Ich geb’s zu. Der aktuelle Plot – man könnte auch Realität dazu sagen – ist komplett unglaubwürdig. Sämtliche Zeitreisende, die zufällig in diesen Jahren stranden, werden total verwirrt sein. Genauso geht es auch Menschen, die noch mit den alten Rollenbildern aus der Politik aufgewachsen sind. Irgendwie macht das alles so keinen Sinn.

Darüber, dass man unverhofft „Nazi“ oder „Zecke“ werden kann, hatte ich ja in der Vergangenheit bereits öfter geschrieben. Aber auch abseits von Einzelschicksalen ist die politische Landschaft in Deutschland eigentlich mehr Satire als Realität. Am besten sieht man das zur Zeit beim Thema #Aufstehen, also der neuen „Bewegung“, die versucht, Menschen einzusammeln um etwas Neues in Deutschland zu gestalten. Trotz des respektablen Erfolgs schon von Anfang an so viele Interessierte hinter sich zu bringen – bisher ist es ja kaum mehr als ein Registrieren – gibt es quasi von allen Seiten Haue. Man könnte fast meinen, man macht gerade das nächste Feindbild nach den Nazis klar, wenn Rechts keinen mehr aufregt.

Was ist an #Aufstehen denn eigentlich so grauenhaft? Ich habe mir die häufigsten Kritikpunkte angesehen.

#Aufstehen ist keine „Bewegung“, sondern wird von Politikern organisiert.

Na das ist (war) ja nun wirklich kein Geheimnis, dass das Ganze nicht spontan entstanden ist, sondern von Politikern und anderen gegründet wurde, um Menschen, die nicht in Parteien organisiert sind (und das vielleicht auch nicht wollen) eine Möglichkeit zum Mitmachen zu geben. Klar, es wäre schöner gewesen, wenn man sich als Graswurzelbewegung irgendwie selbst aus der Bürgerschaft gegründet hätte, aber da war ja nichts wirklich in Sicht, das in so kurzer Zeit einen nennenswerten Einstand hätte schaffen können. Durch die vielen Interessenten kann man deshalb auch hoffen, dass es tatsächlich eine Bewegung der Bürger wird – auch Retortenkinder sind Kinder und können wachsen. Und überhaupt: #Aufstehen ist immer noch deutlich mehr „Bewegung“ als alle politischen Parteien in Deutschland, die das so gern monieren.

#Aufstehen ist ja nur ein Wahlverein für Wagenknecht und Lafontaine

Ohne respektlos sein zu wollen: Lafontaine ist 75 und die Zeit, in der er noch aktiv Politik machen wird (kann), ist sicherlich übersehbar. Schon jetzt findet man ihn, abseits der Schlagzeilen zu #Aufstehen, kaum noch in den Überschriften der Medien – außer im Saarland vielleicht. Das sieht bei Wagenknecht schon ganz anders aus. Ehrlich gesagt hoffe ich sogar, dass sie innerhalb von #Aufstehen die Gestaltungsfreiheit bekommt, die ihr bei den LINKEN verwehrt wird. Eigentlich ist sie auch keine schlechte Gallionsfigur: Frau, Tochter eines Iraners und einer alleinerziehenden deutschen Mutter, Studium in der DDR verweigert wegen fehlender Linientreue, nach der Wende dann Studium und schließlich Promotion. Da schlagen mehrere Quoten gleich voll durch. Wer da skeptisch ist, kann gerne mal die Biografien Wagenknecht – Merkel vergleichen. Nicht sehr schmeichelhaft für Mutti. Ob aus #Aufstehen mal eine Partei werden soll? Na wenn es gut läuft, warum nicht? Was würde dagegen sprechen, wenn sich eine „Bewegung“ so viel Unterstützung sichern kann, dass sie bei Wahlen eine echte Chance hätte? War das nicht bei den anderen Parteien auch mal so?

#Aufstehen zersplittert die Linken in Deutschland

Gute Frage. Wer genau ist denn im Moment „Links“ in Deutschland? Die SPD oder die Grünen? Oder nur die LINKE? Also was SPD und auch die Grünen angeht, koalieren die doch in den letzten Legislaturperioden eh lieber bevorzugt mit rechts aka CDU/CSU. Dass die SPD und die LINKE seit mehr als einer Dekade sowieso nicht wirklich miteinander reden, ist sicherlich nicht Wagenknechts schuld. Echte Sozialpolitik ist auf jeden Fall weder bei der SPD (trotz langer Regierungsbeteiligung) noch bei den Grünen wirklich zu finden. Was die Linke angeht, finde ich es eher traurig, dass man noch nicht mal innerhalb der Partei auf Mobbing verzichten kann. Zersplittert wäre die Linke in Deutschland ganz sicher auch ohne #Aufstehen. Deshalb ist das Angebot von #Aufstehen auch so richtig: Egal aus welcher Partei ihr kommt: macht mit.

#Aufstehen ist ja cool, aber Wagenknecht ist ja extrem rechts/links/Stasi/Egozentrisch/Alien oder was weiß ich.

Also in den Kopf schauen kann ich keinem, aber zumindest Alien würde ich ausschließen. Was den Rest angeht: Wagenknecht hat in 2016 ein Buch veröffentlicht, dass alle wesentlichen Ideen und Konzepte enthält, die sie gerne umsetzen würde. Ich hab das Buch aufmerksam gelesen und kann nur sagen: Chapeau! Mal was ganz anderes als das Phrasengedresche der anderen Politheinis. Egal wo dann „die anderen“ ihre Ideen zwischen rechts und links so einsortieren, ich bin in den meisten Punkten der gleichen Meinung. Klar, keine Ahnung was passiert, wenn sie wirklich die Macht hätte etwas umzusetzen, aber das Problem haben wir doch immer. Bei den „alten“ Parteien hat sich jedenfalls schon gezeigt, dass zwischen Wahlversprechen, Parteiprogramm, gesundem Menschenverstand und Ethik keinerlei Überschneidung zur realen Politik zu finden sind. Da versuch ich lieber was neues.

Bloß nicht #Aufstehen!?

Das ist für mich das Schrägste an der ganzen Sache. Nicht nur, dass mittlerweile die AntiFa Merkels Positionen verteidigt. Zur Zeit gibt es nur bei 2 Sachen einen echten Konsens im Bundestag: AfD ist Scheiße und #Aufstehen ist Quatsch. Meinen Standpunkt zum Thema Umgang mit der AfD habe ich bereits im letzten Blogbeitrag klar gemacht, aber was ist mit #Aufstehen? Also mich macht das schon mal neugierig, wenn plötzlich solche Einigkeit im Bundestag herrscht. Man könnte meinen, getroffene Hunde bellen. Bei den Parteien im Bundestag geht es zunächst erst mal um Machterhalt und Bewahrung des Status Quo. Vielleicht sollte man die allgemeine Ablehnung der Parteien gegenüber #Aufstehen als Kompliment begreifen? Man merkt in Berlin, dass man mit Floskeln und nix machen langsam keinen mehr blenden kann. Was wenn #Aufstehen wirklich funktioniert? Das wäre ein ganz schöner Gegenwind zur aktuellen Politik der Regierung. Da man #Aufstehen schwerlich als „Nazis“ abstempeln kann – obwohl ich das bei manchen Kommentaren in der Presse durchaus lesen konnte – versucht man es einfach anders: man wertet Wagenknecht ab und redet #Aufstehen klein. Und es funktioniert. Bis jetzt wenigstens.

Mitgliederentwicklung SPD (Wikipedia)

Obwohl es mittlerweile mehr als 100.000 registrierte #Aufsteher gibt, wird das Ganze immer noch als Ego-Veranstaltung Wagenknechts oder destruktiv bezeichnet und scheinbar sind die Deutschen mehrheitlich bereit, das auch zu schlucken. Wenn man sich z.B. die Mitgliederzahlen einer „Volkspartei“ wie der SPD ansieht, stellt man fest, dass mehr als 100.000 Interessierte extrem viel ist. Die SPD hat im Moment noch nicht mal 500.000 Mitglieder, und hat seit Anfang der 2000er Jahre ca. 100.000 Mitglieder verloren. Eigentlich also wirklich eine tolle Basis, um mit #Aufstehen in Deutschland eine Veränderung zu bewirken.

Genau deshalb macht es mich so wütend, dass es noch so viele #Sitzenbleiber statt #Aufsteher gibt. Das ist genau die Chance, die seit Jahren gefehlt hat. Euch gefallen einige Aspekte bei #Aufstehen nicht? Gut, dann macht mit und bringt euch ein. Statt sich sinnlos von der Politik in rechts und links sortieren zu lassen, während Merkel und Co. weiterhin dem ökonomischen Gott des unbegrenzten Wachstums huldigen, den Umweltschutz als Option behandeln und die Lebenswirklichkeit für immer mehr Menschen in Deutschland signifikant verschlechtert, könnte man hier einfach mal #Aufstehen.

Danke für’s Lesen.

Euer Christian

#keinPolitiker

Kategorien
Artikel & Beiträge

Bauanleitung für einen Nazi

Normalerweise ist es recht schwierig, eine (fast) ausgestorbene Art wieder in ein bestehendes Biosystem einzugliedern. Es gab ja gute Gründe, warum die Art ehemals am Aussterben war, und der heutige Lebensraum enthält immer weniger Nischen, in denen „seltene“ Arten gedeihen können.

Wieso haben es also die Nazis geschafft, sich innerhalb weniger Jahre nicht nur deutlich zu vermehren, sondern jetzt auch munter dabei sind, ihre Nische zu verlassen und in manchen Gegenden sogar zur dominierenden Art zu werden? Wieso gibt es auf einmal so viele davon? Ich glaube, weil es so einfach ist, welche zu bauen.

Gehen wir das Ganze akademisch an, und überlegen, wie man am besten eine Nazipopulation aufbauen würde. Es gab ja nach dem Krieg erst mal gar keine mehr – die meisten behaupteten sogar, es habe nie welche gegeben. Scheinbar entwickelten einige Exemplare ein perfektes Mimikry und tarnten sich, um in der breiten Masse zu verschwinden. Auf diese Weise konnte sich eine Restpopulation erhalten, die jedoch sehr darauf bedacht war, unerkannt zu bleiben. Man kann zwar drüber streiten, aber nehmen wir einmal an, dass es auch bei den restlichen Nazis eine IQ-Normalverteilung nach der Gaußschen Glockenkurve gab. Es waren also so ca. 2 – 15% schlaue Köpfe (je nachdem, wie man das definiert) dabei. Trotzdem waberten die Nazis eher im Untergrund und diejenigen, die man so sehen konnte, waren offensichtlich nicht Teil der geistigen Elite.

Dann gab es erstmal Wirtschaftsaufschwung (im Westen) und sozialistisches Paradies (im Osten) und bis zum Fall der Mauer waren Nazis eher so ein Schmeißfliegenproblem.

Aber dann ging es los. Als Anfang 1990 die Mauer fiel, war erst mal Goldgräbern angesagt. Es war sozusagen ein Großexperiment mit einem (bzw. zwei) Ländern. Den Menschen im Osten wurden blühende Landschaften versprochen, die im Gegenzug dann auch brav den Versprecher wählten.  Einige schafften den Schnellkurs in Kapitalismus, für viele – wenn nicht die meisten – wurde es aber schnell eng. Diverse VEBs, einst sichere Arbeitsplätze, wurden geschlossen. Alles was irgendwie Wert hatte, schnell verscherbelt und viele Top-Manager aus dem Osten gab es auch nicht. Dafür schaffte es Eine aus dem Osten einige Jahre später ganz an die Spitze, das war es dann aber auch schon fast. Denn noch bevor man sich über tolle renovierte Fassaden und Glasfaserkabel in Leipzig und Co so richtig freuen konnte, kam die Wirtschaftskrise angekrochen. Die erwischte dann auch ganz Deutschland und wir erlebten viele Segnungen der modernen Sozialdemokratie wie Hartz IV, geringfügige Beschäftigungen, (Hunger-) Mindestlohn, weitere Rüstungsexporte, Bankenrettung, etc. Das wäre einen eigenen Blogbeitrag wert, aber das ist ja heute nicht das Thema. Zurück blieb eine Bevölkerung, die im Wesentlichen eins gelernt hatte: die fetten Jahre sind vorbei. Es ging nicht mehr um Wachstum oder Absicherung des Wohlstands. Es ging für die meisten eher darum, möglichst nicht abzurutschen. Und um die Stimmung endgültig zu killen, konnte man gleichzeitig einen beispiellosen Zugewinn bei einzelnen Privatvermögen erkennen. Weil man „den Aktionären“ verpflichtet war, entließ man halt Arbeiter, und die Dividende landete dann bei einer Handvoll Menschen. Dazu gesellte sich das unbestimmte Gefühl, dass man von der Politik prinzipiell verarscht wird. Kaum ein Versprechen wird gehalten, es geht nur noch um den Machterhalt und Probleme wurden schon lange nicht mehr gelöst. Damit waren die wichtigsten Bauteile für einen Nazi schon vorhanden: Angst, im eigenen Leben erhebliche Abstriche – wenn nicht Abstürze – hinnehmen zu müssen und das fehlende Vertrauen in die Menschen, die das Land eigentlich lenken sollten.

Das führte auch dazu, dass es plötzlich Parteien gab, die erkannt hatten, dass es eine große Menge unzufriedener Menschen in Deutschland gab. Am Anfang ungeschickt und schnell als rechte Eingreiftruppe erkennbar, folgte eine Professionalisierung. Klar, so aalglatt, wie die anderen Parteien ist die AfD (noch) nicht, aber das wird schon noch. Es reichte schon, dass man bei der AfD berechtigte Fragen stellte. Keiner merkte, dass die Antworten der AfD darauf scheiße waren. Es war auch egal, denn man wurde als besorgter Bürger endlich einmal gehört. Das gab genug Endorphine, dass man über die Folgen der vorgeschlagenen Antwort gar nicht erst groß nachdachte.

Bis hierhin war die Lage zwar brenzlig, aber beherrschbar. Eine funktionierende Gesellschaft kann ohne weiteres 5% AfD aushalten. Doch dann begann die Entrüstungskampagne, quasi zeitgleich mit dem Flüchtlingsstrom. Das sieht man in der Biologie übrigens häufig, dass Änderungen im Ökosystem plötzlich Nischenarten ins Rampenlicht und an den Anfang der Nahrungskette katapultieren. Wie war das bei uns?

Wenn man mit den Leistungen der Regierung nicht zufrieden war und ähnliche Fragen stellte wie die AfD, wurde man sofort eingemeindet. Dabei hat die Politik wesentlich beigetragen. Jedes Mal, wenn die AfD zu Wort kam, gab es Entrüstung. Alle, die nicht explizit gegen die AfD und deren Fragen waren, wurden zur AfD gerechnet. Ich denke, in der Zeit haben bei der AfD häufig die Sektkorken geknallt. Sie bekamen quasi Sympathisanten zwangsweise zugeteilt. Das führte dazu, dass zwei ziemlich simple und gut erforschte psychologische Effekte anliefen. Da ja immer mehr Menschen plötzlich – wegen ihrer Fragen und Kritik – Nazis bzw. AfD waren, fand man sich in einer immer größer werdenden Gemeinschaft wieder. Dies bewirkte einen „social Proof“, wie es im Marketing so schön heißt. Im Deutschen würde man es „soziale Bewährtheit“ nennen. Es ist eins der mächtigsten Instrumente, wenn man Menschen etwas andrehen will. Deswegen ist ja immer auch ein Fußballstar auf unserem Waschmittel usw. Wenn wir es genauso machen, wie die Leitperson oder eine große Menge anderer, sind wir bei unseren Entscheidungen sicherer. Wenn ich jetzt also irgendwo wohne, vielleicht in Chemnitz, und rund um mich rum werden meine Nachbarn alle Nazi genannt, obwohl die ja eigentlich ganz vernünftige Fragen stellen, habe ich gute Chancen mich davon anstecken zu lassen. Besonders, wenn mir die gleichen Probleme auf den Nägeln brennen. Der zweite Effekt war der „In Group / Outgroup“ Effekt. Auch er ist von enormer Stärke und beeinflusst sogar unbewusst Menschen, die sich eigentlich für schlau halten. Kurz gesagt bedeutet er, wenn ich mit meiner Gruppe auf eine andere (feindliche) Gruppe treffe, verstärkt sich automatisch der Zusammenhalt, man wird unkritischer gegen die eigenen Entscheidungen und lässt gerne mal den Zweck die Mittel heiligen. Nichts lässt eine Gruppe mehr zusammen rücken als das Auftauchen eines Gegners. Läßt sich wunderbar bei den vielen Demos und Gegendemos beobachten. Keine Seite hält sich noch an die Ideale, die man eigentlich vertreten wollte. Hauptsache man hat keinen Fußbreit nachgelassen. Glückliches Schulterklopfen auf beiden Seiten. Lustigerweise könnten auch beide Parteien einfach auf die Regierung sauer sein. Das wär dann vielleicht tatsächlich produktiv.

Als Katalysator in diesen Prozessen eignete sich die Flüchtlingskrise hervorragend. Klar, wir hätten in Deutschland (und weltweit) andere Probleme, die deutlich dringender sind, aber keins, dass sich so schön verbocken lässt. Unglücklicherweise sind dabei die Medien in einer Art Sippenhaft gelandet, aber das ist wohl die Konsequenz, wenn man als meistgekaufte Zeitung im Land eben keinen Qualitätsjournalismus hat und einfach vorne drauf druckt, was die höchste Auflage verspricht.

Was passierte z.B. in Chemnitz zum Thema Flüchtlinge im Jahr 2015? Ziemlich viel. Es gab in ganz Sachsen nämlich nur eine Erstaufnahmeeinrichtung. Diese Einrichtung nahm dann 70.000 Flüchtlinge auf. Wohlgemerkt bei einer Einwohnerzahl von ca. 246.000. Man könnte auch sagen, in dieser Zeit waren fast 30% der Bewohner Flüchtlinge. Mal so zum Vergleich: Mainz hat so ungefähr die gleiche Einwohnerzahl wie Chemnitz. Was wäre hier wohl passiert?

In der gleichen Zeit wurde in Sachsen erheblich am Personalbestand der Polizei eingespart. Nicht nur, dass die Stellen der erfahrenen Pensionäre nicht mehr aufgefüllt wurden, es gab auch für die jungen kaum bzw. keine Weiterbildung und – ganz wichtig – politische Bildungskurse. Dazu kommt, dass man dauernd nur aus den (Kriminalitäts-)Statistiken das vorliest, was einem in den Kram passt und unbequeme Inhalte einfach verschweigt. Ganz verheerend besonders bei Menschen, die es gewohnt sind, sich mit den Hintergründen einer Nachricht zu beschäftigen. So vergrault man die gut Informierten und Engagierten zuerst.

Man sieht, die Hauptzutaten sind schnell ausgemacht. Man bringt eine Bevölkerung dazu, sich vor der eigenen Zukunft zu fürchten, lässt sie erleben, wie sich Zukunfts- u. Lebenspläne in Luft auflösen, zerstört die (eigene) Glaubwürdigkeit als Politiker und setzt das Ganze dann unter Dampf, indem man noch eine Überlast an Integrationsbedarf abwirft, ohne die Region darauf vorzubereiten bzw. zu unterstützen. Damit es nicht nur ein Strohfeuer bleibt, bringt man mit einer Konkurrenzgruppe noch genügend Potential zum Abarbeiten an den Start…. und schon bauen sich weitere Nazis ganz von selbst. Schade das man die Geschäftsidee nicht zu Geld machen kann. Ein echter Selbstläufer.

Bevor mir jetzt jemand den Aluhut schickt: Ich glaube nicht, dass es eine Verschwörung ist, von dunklen Gestalten in dunklen Hinterzimmern ausgedacht. Ich glaube vielmehr, das ist das Resultat, wenn man genügend unfähigen Menschen zu viel Macht gibt. Es entwickelt einfach eine Eigendynamik.

Was ist die Moral von der Geschichte? Wenn ihr wollt, dass es weniger Nazis gibt, müsst ihr dafür sorgen, dass die wichtigsten Baumaterialien dafür fehlen. Die bestehenden Nazis anzuschreien, wird gar nichts ändern. Wie man sieht, wird die Zahl derer, die wir an den rechten Rand verloren haben eher größer statt kleiner. Trotz (oder wegen) totaler Ausgrenzung. Die Menschen, die mit Hitlergruß und „Töten“-Rufen durch die Stadt ziehen, wird man kaum noch erreichen können. Die Ganzen, die stumm mitlaufen, schon. Vielleicht wäre es wirkungsvoller, wenn man auf der „Gegenseite“ nicht schreiend und laut ausgrenzen würde. Wie wäre es mit einer komplett stillen Mahnwache und einem Plakat: „Kommt zurück. Wir brauchen Euch“? So ist es nämlich. Wir brauchen jede Stimme, wenn wir eine Regierungsbeteiligung der AfD verhindern wollen. Und noch viel mehr Stimmen, wenn wir endlich einmal eine Regierung haben wollen, die sich auch um die Menschen statt um Mehrheiten kümmert.

Danke für’s Lesen. Seid lieb!

Euer Christian

#keinPolitiker