Es gibt immer wieder Bereiche der Psychologie, die fest in der Hand von Küchenabreisskalendern – oder heutzutage Internet-Memes – sind. Es sindThemen, die neben rein psychologischen Aspekten auch einen gehörige Portion Weltanschauung mittransportieren. Für das Thema meines Textes heute – Rache und Vergebung – gilt das auch. Eigentlich besteht kein Mangel an Forschung zu diesem Thema. Allein für 2019 werden schon knapp 1.500 wissenschaftliche Veröffentlichungen zu diesem Komplex gefunden. Ich kann natürlich nicht sagen, ob die Studien am Ende nur ein Glückskekstext im wissenschaftlichen Gewand sind. Deswegen will ich heute meine Recherche zum Thema etwas anders aufziehen. Wie wäre es, wenn wir die üblichen Ratschläge beim Wunsch nach Rache und Vergebung einfach mal auf die Kompatibilität mit wichtigen Basiserkenntnissen der Psychologie prüfen?! Mittlerweile wissen wir eine ganze Menge darüber, wie Prozesse in unserem Gehirn ablaufen. Auf diese Art und Weise mussten schon so manche Ideen ihren Hut nehmen, während man bei anderen – oft als Irrweg verschriene Konzepte – Abbitte leisten musste.

Schauen wir uns also zunächst die „typischen“ Ratschläge an, wenn es um Rache oder Vergebung geht. Gerade von Rache wird dringend abgeraten. Neben moralischen Bedenken – man würde sich ja sonst mit dem Übeltäter auf eine Stufe begeben – spielt häufig die Frage eine Rolle, ob man sich damit nicht etwas aufs Gewissen laden würde. Gewarnt wird auch davor, die Rache zum Sinn seines Lebens zu machen, da ja dann, nach erfolgter Rache, nichts mehr übrig ist. Last not least gibt es natürlich auch juristische Bedenken. Selbstjustiz widerspricht ganz wesentlich den Idealen unseres Rechtssystems. Ziemlich genau umgekehrt ist es dann bei Vergebung. Während bei Rache eher abgeraten wird, scheint Vergebung ein Allheilmittel zu sein. Wer es nur schafft, seinem Übeltäter zu vergeben, ist auf dem Weg in ein glücklicheres Leben – so häufig der Tenor. Die Fähigkeit zu Vergeben – ganz besonders bei erheblichen Ereignissen – wird dann auch als Zeichen überlegener Moral und außerordentliche Charakterstärke verstanden. Scheinbar treffen sich bei diesem Punkt die Texte der Bergpredigt und der kantsche Imperativ: wer vergeben kann, wird nicht nur glücklich, er ist auch ein leuchtendes Vorbild, dem man nacheifern sollte.
Warum also das Thema noch einmal aufrollen, wenn die Lösung und die passende Verhaltensnorm doch so einfach und toll ist? Ich denke, das muss jeder für sich selbst entscheiden, aber mein Grund, mich genauer mit dem Thema zu beschäftigen ist simpel: es funktioniert für mich in vielen Fällen einfach nicht so. Diejenigen unter den Lesern, die das meiner charakterlichen Unreife zuschreiben, werden gebeten einfach irgendwo eine Kerze für mich anzuzünden und nicht weiter zu lesen. Der Rest ist gerne eingeladen, sich mit mir auf eine Reise mit ergebnisoffenem Ausgang zu machen.
Damit das ganze keine Doktorarbeit wird, ist es sicher sinnvoll, das Problemfeld etwas genauer zu definieren. Hilfreich dafür ist es, das Ganze etwas zuzuspitzen. Nehmen wir einfach die ganzen alltäglichen Kränkungen, Ungerechtigkeiten und ungewollten Kontakt mit dummen Menschen aus der Gleichung. Ich denke es ist offensichtlich, dass man entspannter lebt, wenn man nicht wegen jedem Zusammenstoß – und ist man noch so ungerecht behandelt worden – sofort Blutrache ausruft. Bis hierhin würde ich mich tatsächlich an die Therapieempfehlung meines Küchenabreisskalenders halten. Ein echter Prüffall ist das aber nicht. Wählen wir also für unsere Überlegungen ein schwerwiegendes Ereignis. Nicht einschließen würde ich ebenfalls Ereignisse, die durch einen Unfall ausgelöst wurden. Es ent-kompliziert die Betrachtung etwas, da das Problem des Urhebers bzw. der Verantwortlichkeit nicht auch noch erwogen werden muss. Was bleibt also übrig?
Ich möchte jetzt ganz bewusst nicht komplexe und hoch-tragische Situationen konstruieren, sondern eher nah bei dem bleiben, was vielen Menschen im Alltag unverhofft blühen kann. Da gibt es das Mobbing aus heiterem Himmel, das Gesundheit und Arbeitsplatz kostet, die Gewalttätigkeit, die nicht nur physische sondern auch psychische Schäden anrichtet, das unschuldig verurteilt werden, oder – in meinem Tätigkeitsumfeld leider viel häufiger als mir lieb ist zu sehen – die Trennung von den eigenen Kindern durch falsche Beschuldigungen. Natürlich könnte die Liste noch endlos weitergehen, aber alle Beispiele haben etwas gemeinsam: Es gibt einen konkreten Verursacher, es gab für die Tat keine (ethisch begründbare) Rechtfertigung und die Folgen werden das Opfer wahrscheinlich das ganze Leben lang begleiten.
Bevor wir über Rache und Vergebung sprechen, müssen wir uns zunächst anschauen, wie solch eine Verletzung oder Trauma überhaupt entsteht bzw. „verinnerlicht“ wird.
Schön und gut, mag man denken, dann muss man eben daran arbeiten, dass wieder zu vergessen. Genau. Schön wäre es. Unglücklicherweise ist das Vergessen von etwas, was es einmal bis in die tiefen Schichten unseres Gedächtnisses geschafft hat, nur mit extrem großen Aufwand möglich. Tatsächliches „Vergessen“ im Wortsinne findet über einen langen Zeitraum gar nicht statt – manchmal nie. Es ist eher so, dass wir uns bemühen müssten, eine Umleitung für die Gedächtnisspur zu bauen, die wir nicht mehr aufrufen wollen. Erst wenn die neue Bahn deutlich stärker als die Alte ist, haben wir eine reelle Chance, nicht immer wieder auf die alte Gedächtnisspur zu fallen. Die „Umleitung“ darf aber kein kleiner Feldweg sein. Da die Verletzung durch Modulation mit Neurotransmittern und hoher emotionaler Beteiligung sozusagen Turbo-gelernt und im Folgenden häufig aktiviert wurde – wobei die dabei beteiligten negativen Emotionen beim Wiederabruf noch für eine weitere Verstärkung sorgen – handelt es sich bei der Gedächtnisspur um eine breite Datenautobahn, die bevorzugt befahren wird, da sich die beteiligten und vernetzten Neuronen in diesem Bereich eben so gut verstehen. Damit eine Umleitung überhaupt in Erwägung gezogen wird, muss die schon ziemlich breit und gut ausgebaut sein. Da wir wahrscheinlich beim Bau der Umleitung keine negativen Emotionen oder Traumatisierungen einsetzen wollen, wird der Prozess eine ganze Weile dauern. Jeder, der schon einmal eine Verhaltenstherapie hatte, weiß, wie mühsam man sich mit kleinen Schritten von alten Gewohnheiten trennt und neue lernt.

Sehen wir uns an, wie so ein Ereignis gespeichert wird. Ohne jetzt tief in die Lerntheorie und Neuropsychologie absteigen zu wollen, können wir 2 Faktoren festhalten:
- Das Ereignis wird unter hoher emotionaler Aktivierung gelernt bzw. erlebt.
Die entsprechende Ausschüttung bestimmter Neurotransmitter führt zu einer Forcierung des Lerneffekts. Bei Ereignissen, die stark von negativen Emotionen begleitet sind, reicht häufig ein Durchgang für eine lebenslange Erinnerungsspur in unserem Gehirn. Es ist sogar davon auszugehen, dass die Erinnerung an eine hohe Zahl von „Clues“, also Hinweisreizen, gebunden ist, die dafür sorgen, dass es im Alltag ungewollt zu Reaktivierung der Erinnerung kommt. Oft kann und will man die Clues auch gar nicht aus der Lebensumwelt des Betroffenen verbannen. Wie erklärt man einem Vater, der seine Kinder nicht mehr sehen darf, dass er besser auch noch alle Bilder von ihnen abhängt und die Spielsachen verschenkt? - Wegen Punkt 1 kommt es schon kurz nach dem Erlebnis zu einer Verfestigung der Gedankenspur im Sinne der Hebbschen Regel „Neurons who fire together wire togehter“ – d.h. oft genutze neuronale Netzwerke in unserem Gehirn werden tendenziell stärker ausgebaut und leichter aktivierbar.
Genau hier beginnt für mich der Schwachpunkt der „Vergebungstheorie“. Natürlich, wäre ein Opfer in der Lage, die Erinnerung einfach zu überschreiben, wäre es wahrscheinlich die beste Lösung, um die Verletzung zu überwinden. Das mag vielleicht bei manchen Verletzungen auch funktionieren – und ich gebe zu, dass hier sicherlich jeder eine andere Schmerzgrenze hat – aber bei einem Ereignis, der das Leben eines Menschen in den Grundfesten erschüttert hat, halte ich das schlicht für naiv und auf neurobiologischer Ebene für nicht haltbar. Die Idee entstammt vielmehr dem Wunsch nach einem ethisch korrekt handelnden Menschen, hat aber mit der Realität unserer kognitiven Fähigkeiten nichts zu tun. Wer einmal mit Menschen zu tun hatte, die derart schwer verletzt wurden, merkt auch schnell, wie utopisch der Versuch des Vergessens oder auch Akzeptierens ist. Gewaltopfer und Hinterbliebene werden selbst 20 oder 30 Jahre nach dem Ereignis noch von einem unbeabsichtigten Auslösereiz in die Erinnerung gerissen. Nicht umsonst gibt es nur wenige Psychologen, die sich qualifiziert an die Aufarbeitung von Traumata machen.
Daraus folgt natürlich, dass diejenigen, die nicht vergessen können, auch weiterhin mit dem Wunsch nach Genugtuung, Gerechtigkeit oder eben Rache konfrontiert werden. Dieser Wunsch ist dabei ebenso stark wie das auslösende Erlebnis negativ war. Erklärt man diesem Mensch jetzt, dass sein Wunsch nach Rache „schlecht“ ist, macht man ihn zum zweiten Mal zum Opfer. Der Wunsch nach Gerechtigkeit ist eine uralte, angeborene Funktion unseres Gehirns. Schon Experimente mit Kleinkindern haben gezeigt, dass der Wunsch nach Fairness extrem ausgeprägt ist.
In unserem Rechtssystem hat der Staat das Gewaltmonopol und darf deswegen auch exklusiv Rechtsbrüche bestrafen. Natürlich ist ein von Menschen gemachtes Rechtssystem nicht perfekt. Je nach Zustand der Gesellschaft, wird die staatlich ausgeübte Rache, d.h. die Bestrafung nach den Buchstaben des Gesetzes, als gerecht oder angemessen oder auch nicht bewertet. Die Justiz steht dabei immer im Spannungsverhältnis zwischen dem, was das Gesetz vorschreibt und dem, was das Gerechtigkeitsempfinden der Bürger fordert. Eine Position die, so scheint es mir jedenfalls, immer mehr vom Gerechtigkeitsempfinden der Bürger abrückt und abstrakte Rechtspositionen vertritt – aber das ist eine andere Geschichte. Trotzdem waren es die Juristen und nicht die Psychologen, die erkannt haben, dass eine Bestrafung des Täters durch den Staat nicht die persönlichen Bedürfnisse des Opfers ersetzt. In Deutschland steht dazu für bestimmte Fälle der Täter-Opfer-Ausgleich zur Verfügung. Es handelt sich dabei um keine neue Erfindung, sondern wurde bereits in alten Rechtsschriften um 1.800 v. Chr. genutzt. Der Täter-Opfer-Ausgleich bringt eine Komponente ins Spiel, die für einen tatsächlichen Vergebungsprozess unabdingbar ist: die Bitte um Vergebung und Wiedergutmachung.
Genau hier ist der typische blinde Fleck der Vergebungstheorien und der Schwachpunkt der juristischen Bearbeitung. Natürlich können Vermögensschäden – und bis zu einem gewissen Punkt auch Gesundheitsschäden – kompensiert werden. Genauso wirkt ein „Es tut mir leid“ als Angeklagter vor Gericht häufig strafmindernd, aber hat sich tatsächlich etwas in der Welt des Opfers geändert? Egal wie hoch die Geldstrafe oder lang die Haftstrafe ist, es wird nicht ungeschehen gemacht. Wie auch? Es gibt nun mal keine Zeitmaschinen. Ganz zu schweigen von den vielen Fällen, die tatsächlich überhaupt nie vor Gericht verhandelt werden (können).
In alten Kulturen findet man bei der Rechtsprechung oft „Auge um Auge“ Konzepte, die für einen Ausgleich sorgen sollen. Häufig im Kombination mit der Tatsache, dass das Opfer die Strafe selber ausführen bzw. abmildern kann. Abgesehen von den ethischen Problemen solch einer Auge-um-Auge Bestrafung ist es bei vielen Delikten einfach nicht möglich, gleiches mit gleichem zu vergelten. Des weiteren würde eine solche Rechtsordnung auch nicht ohne die Todesstrafe auskommen, was aus anderen Gründen keine gute Idee ist. Trotzdem gibt es aber einen Aspekt, den ich für sehr wichtig halten würde. Es gibt die direkte Möglichkeit des Opfers, über das Strafmaß mit zu bestimmen. Das Hauptkennzeichen eines Opfers ist seine Machtlosigkeit. Das Ausgeliefert-sein gegenüber dem Aggressor. Die Erfahrung, dieses Verhältnis umdrehen zu können, ist aus psychologischer Sicht ein wichtiger Aspekt. Es öffnet die Tür zur Neubewertung.
Der bereits erwähnte Täter-Opfer-Ausgleich, den es in Deutschland seit Anfang der 90-er Jahre gibt, geht diesen Weg nur teilweise. Trotzdem ist er ein wichtiger Schritt, dem Opfer seine Autonomie wieder zu geben. Eine besondere Rolle spielt beim Täter-Opfer-Ausgleich die Wiedergutmachung. Während im Strafverfahren der Fokus nur auf der Strafe des Täters liegt, stehen hier jetzt zum ersten Mal die Folgen für das Opfer im Vordergrund. Gerade im Jugendrecht ist auch die direkte Konfrontation des Täters mit den Folgen seiner Tat für die Lebensführung des Opfers doppelt hilfreich.
Wie man sieht, hat also sogar die Justiz das Problem mit der Vergebung und dem Verzicht auf Rache erkannt, während man in der Psychologie oder Ethik gerne noch von einem Wunschbild ausgeht.
Leider sind die neueren Erkenntnisse der Psychologie auch nicht besonders ermutigend für die Opfer. Einer der Gründe dafür ist das sich langsam wandelnde Verständnis von Schmerz. Nachdem Schmerz zuerst für ein rein körperliches Symptom gehalten wurde, gab es danach die Erkenntnis, dass es durchaus auch psychosomatische – also seelische – Ursachen für Schmerz geben kann. In letzter Zeit hat sich die Lücke zwischen den beiden Bereichen mehr und mehr geschlossen. Wer heute einen Menschen in den Hirnscanner legt, wird bei körperlichem Schmerz und „sozialem“ Schmerz, z.B. durch Ausgrenzung oder Einsamkeit, sehr ähnliche Aktivierungsmuster finden. Etwas verkürzt könnte man sagen, dass ein gebrochenes Bein und Herz den gleichen Schmerz verursachen. Wer sich tiefer in diese Frage einarbeiten möchte, dem sei das Buch „Schmerzgrenze“ von Joachim Bauer ans Herz gelegt.
Die Erkenntnis, dass sich die Schmerzmuster gleichen, hat zu vielerlei neuen Ansätzen geführt. So wurde z.B. in Altenheimen registriert, dass einsame alte Menschen anfangen, sich instinktiv selber mit Schmerzmitteln (z.B. Ibuprofen) zu behandeln. Anderswo nutzt man diesen Effekt für die Soforthilfe bei Depressionen, weil die typischen Antidepressiva Wochen brauchen, bis sie wirken – falls überhaupt.
ACHTUNG: Ich würde jedem abraten, seine (psychosomatischen oder depressiven) Beschwerden eigenmächtig mit Medikamenten zu behandeln. Suchen Sie sich lieber einen Arzt, der mit der neuesten Forschung vertraut ist. Schmerzmittel sind kein Spielzeug!
Das Problem bei Schmerz ist nicht nur der Schmerz selbst, sondern eine mögliche Chronifizierung. Bleiben Schmerzen über mehrere Monate bestehen – was ja der Regelfall bei schwerwiegenden emotionalen Verletzungen ist, besteht die Gefahr der Chronifizierung. Wie weiter oben schon gelernt, werden auch diese Schmerzgedächtnisspuren im Gehirn mit jeder Aktivierung breiter und stärker. Irgendwann bildet sich eine Art Schmerzgedächtnis, auch wenn die eigentlichen Ursachen nicht mehr vorliegen.
Wie man sieht, müssen Opfer weit über die Tat hinaus mit den Folgen der Ereignisse leben. Wie könnte man diesen Menschen denn am besten helfen? Ich bezweifle, dass der Rat „das alles hinter sich zu lassen“ tatsächlich schon einmal funktioniert hat. Natürlich könnte man das emotionale Empfinden auch mit Hilfe von Chemie herunter dimmen, aber auch hier müsste das Opfer mit weiteren Einschränkungen in der Lebensführung rechnen. Guter Rat ist teuer, aber manchmal hilft es zu schauen, welche Mechanismen uns die Natur – unterstützt durch endlose evolutionäre Prozesse – so an Werkzeugen mitgegeben hat.
Haben Sie sich schon mal angesehen was passiert, wenn Kleinkinder miteinander spielen und sich eins weh tut? Es passt natürlich nicht immer, je nachdem wie die Kinder sozialisiert wurden, aber der „pure“ Effekt ist immer ähnlich. Es wird Trost gespendet. Es erfolgt kein Hinweis, dass es ja auch viel schlimmer hätte kommen können, dass der blöde Typ, der das Bein gestellt hat, dafür jetzt geschimpft bekommt oder dass man sich einfach nicht so anstellen soll. Nix davon passiert. Im Gegenteil. Es wird mit einer geballten Welle an Empathie geantwortet, fast so als ob der Tröster den Schmerz selber spüren könnte, es wird körperliche Nähe gesucht (Umarmung oder gerne auch mal auf die Aua-Stelle pusten) und nach einer Schrecksekunde schimpfen dann beide wie die Kesselflicker auf den Übeltäter. Ich denke, davon kann man viel lernen.
Es wird hier nämlich nicht rationalisiert – weil Menschen eben auch keine rationalen Wesen sind – sondern solidarisiert. Allein die Tatsache, dass man mit seinem Problem nicht mehr allein ist, macht es leichter. Das Solidarisieren hat aber noch einen weiteren Effekt. Es zeigt dem Opfer, dass es im Recht ist und die Sache nicht seine/ihre Schuld war. Diese zwei Aspekte: (Auf)teilung des Schmerzes und Absolution sind mächtige Hilfsmittel, um eine weitergehende Traumatisierung zu vermeiden. Für den Psychologen mit Kassenzulassung stellt diese Sichtweise – je nach Schule, der er angehört – ein erhebliches Problem dar. Er darf sich nämlich nach den allgemeinen Regeln der Therapie nicht mit dem Patienten soweit solidarisieren, dass eine erhebliche emotionale Verbindung – die für ein echtes Teilen des Schmerzes notwendig wäre – möglich ist. Es ist sicher auch von der Erfahrung des Therapeuten abhängig, aber es ist in jedem Fall ein Balanceakt. Viel einfacher ist es für die Freunde und Angehörigen. Als erste (und zweite) Hilfe kann man durchaus raten: Leiden Sie mit (sofern Sie das aushalten können – Selbstschutz geht vor). Solidarisieren Sie sich. Geben Sie keine Ratschläge. Seien Sie da! Geben Sie Nähe, hören Sie zu – auch wenn Sie die Geschichte schon 1000 x gehört haben. Versuchen Sie bei der Erzählung möglichst zeitnah auch positive Clues durch kurze Fragen mit einzubauen. Ein Elternteil, den es quält, dass er seine Kinder nicht sieht, kann man durchaus auch mal fragen, was er denn jetzt gerne mit seinen Kindern machen würde. Es wird ein trauriger Moment bleiben, aber man baut damit vorsichtig die Fundamente für die „Umleitung“ im Gehirn. Fingerspitzengefühl ist hierbei von besonderer Wichtigkeit. Je nach der Ursache der emotionalen Verletzung sind unterschiedliche Schritte notwendig. Die Grundidee ist es, in dem betroffenen Themenkomplex langsam wieder positive Ereignisse – und damit auch Erinnerungen – zu kreieren. Es ist ein langwieriger Prozess, der von allen Beteiligten wirklich viel verlangt. Entsprechende Handlungs- und Therapieansätze zu beschreiben, würde hier leider den Beitrag sprengen, aber ich denke, dass ich die Grundidee deutlich gemacht habe.
Ein erheblicher Wirkfaktor bei der Verarbeitung von emotionalen Verletzungen ist die Frage, ob es eine Entschuldigung und eine Wiedergutmachung gab. Gerade bei nicht-justiziablen Ereignissen und im eigenen sozialen Umfeld, wird es kaum externen Druck auf den Täter geben. Auch ein dahingesagtes „Sorry“ erfüllt im Regelfall nicht den Zweck. Entschuldigungen werden erst wertvoll durch die Verknüpfung mit einem Akt der (symbolischen) Wiedergutmachung. Die Wiedergutmachung sollte ein Opfer für den Täter darstellen, dass der Tat angemessen ist. Manchmal ist dies nicht möglich. Dann kann man sich für eine symbolische Wiedergutmachung entscheiden. Für das Opfer ist es sinnvoll zu erarbeiten – am besten in Zusammenarbeit mit einem Therapeuten oder Vertrauensperson – was als Entschuldigung und Wiedergutmachung angemessen wäre. Es hilft einem dabei, einen möglichen Schlusspunkt für das Leiden zu definieren. Sehr häufig reicht tatsächlich schon eine ernst gemeinte Entschuldigung des Täters aus, evtl. begleitet von einer symbolischen Wiedergutmachung. Wenn dies möglich ist, hat das Opfer gute Chancen, der Abwärtsspirale zu entkommen. Leider kommt es in vielen Fällen nicht oder viel zu spät dazu.
Wenn die Wiedergutmachung fehlt, bleibt nur das langfristige Arbeiten an positiven Erfahrungen. Gerade die Angehörigen/Freunde sind dabei wichtige Bezugspunkte. Die Solidarisierung mit dem Opfer durch einfache Sätze wie „Ich bin auf deiner Seite. Ich finde es total ungerecht was Dir passiert ist. Dich trifft keine Schuld“ lösen auch noch Jahre nach dem Ereignis ein Gefühl der Erleichterung beim Opfer aus.
Was bleibt, ist die Frage nach der Rache. Im besten Fall ersetzt die Wiedergutmachung die Rache. Leider ist dies häufig nicht möglich. Trotzdem kann man natürlich niemanden raten, Selbstjustiz oder Straftaten zu begehen, um Genugtuung zu empfinden. Insbesondere birgt die „Selbstjustiz“ auch die Gefahr einer sich hochschaukelnden Eskalation, z.B. wie im Modell nach Glasl, bei der die letzte Stufe bezeichnenderweise „Gemeinsam in den Abgrund“ heißt.
Aus logischer Sicht bleiben nur zwei Möglichkeiten: Sich auf eine Art zu „revanchieren“, die eher eine Art Streich als Straftat ist – was ich für die meisten Fälle als extrem schwierig halten würde – oder ein Re-Framing des Wunsches nach Rache. In solchen Fällen deutet man das Racheziel in einen konstruktiveren Kontext um, z.B. dem Typ, der mich gemobbt hat, zeige ich es, indem ich in meinem neuen Job total erfolgreich bin und viel mehr verdiene als er. Wenn ich das dann geschafft habe, schicke ich ihm ein Foto von mir im Urlaub auf den Malediven mit der Kopie meines Gehaltszettels. Der Fantasie solcher Re-Framings sind keine Grenzen gesetzt, erfordern aber auch die „Mitarbeit“ eines Familienmitglieds bzw. Therapeuten, damit tatsächlich auch positive, erreichbare Ziele definiert werden. Gelingt es, ein solches Ziel zu definieren, kann Rache und ein stückweit auch Wiedergutmachung wirkungsvoll ersetzt werden. Es ist dann nicht mehr nötig, das Opfer in einen Racheverzicht hineinzudrängen, das dem Gerechtigkeitsempfinden widerspricht und die Verarbeitung des Traumas nur schwieriger macht.

Besonders gut kann man dieses Konzept auch auf Kinderspielplätzen beobachten. Wenn der blöde Sören die Sandburg kaputt gemacht hat, nimmt Marlene den kleinen Leo in den Arm und sagt: „Lass doch den Blödmann! Wir bauen eine viel schönere und der darf nicht mitmachen.“ Alles dabei: Solidarisierung, Nähe/Support, Re-Framing. So geht gute Psychologie.