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Die Psychologie von Rache und Vergebung

Es gibt immer wieder Bereiche der Psychologie, die fest in der Hand von Küchenabreisskalendern – oder heutzutage Internet-Memes – sind. Es sindThemen, die neben rein psychologischen Aspekten auch einen gehörige Portion Weltanschauung mittransportieren. Für das Thema meines Textes heute – Rache und Vergebung – gilt das auch. Eigentlich besteht kein Mangel an Forschung zu diesem Thema. Allein für 2019 werden schon knapp 1.500 wissenschaftliche Veröffentlichungen zu diesem Komplex gefunden. Ich kann natürlich nicht sagen, ob die Studien am Ende nur ein Glückskekstext im wissenschaftlichen Gewand sind. Deswegen will ich heute meine Recherche zum Thema etwas anders aufziehen. Wie wäre es, wenn wir die üblichen Ratschläge beim Wunsch nach Rache und Vergebung einfach mal auf die Kompatibilität mit wichtigen Basiserkenntnissen der Psychologie prüfen?! Mittlerweile wissen wir eine ganze Menge darüber, wie Prozesse in unserem Gehirn ablaufen. Auf diese Art und Weise mussten schon so manche Ideen ihren Hut nehmen, während man bei anderen – oft als Irrweg verschriene Konzepte – Abbitte leisten musste. 

Schauen wir uns also zunächst die „typischen“ Ratschläge an, wenn es um Rache oder Vergebung geht. Gerade von Rache wird dringend abgeraten. Neben moralischen Bedenken – man würde sich ja sonst mit dem Übeltäter auf eine Stufe begeben – spielt häufig die Frage eine Rolle, ob man sich damit nicht etwas aufs Gewissen laden würde. Gewarnt wird auch davor, die Rache zum Sinn seines Lebens zu machen, da ja dann, nach erfolgter Rache, nichts mehr übrig ist. Last not least gibt es natürlich auch juristische Bedenken. Selbstjustiz widerspricht ganz wesentlich den Idealen unseres Rechtssystems. Ziemlich genau umgekehrt ist es dann bei Vergebung. Während bei Rache eher abgeraten wird, scheint Vergebung ein Allheilmittel zu sein. Wer es nur schafft, seinem Übeltäter zu vergeben, ist auf dem Weg in ein glücklicheres Leben – so häufig der Tenor. Die Fähigkeit zu Vergeben – ganz besonders bei erheblichen Ereignissen – wird dann auch als Zeichen überlegener Moral und außerordentliche Charakterstärke verstanden. Scheinbar treffen sich bei diesem Punkt die Texte der Bergpredigt und der kantsche Imperativ: wer vergeben kann, wird nicht nur glücklich, er ist auch ein leuchtendes Vorbild, dem man nacheifern sollte.

Warum also das Thema noch einmal aufrollen, wenn die Lösung und die passende Verhaltensnorm doch so einfach und toll ist? Ich denke, das muss jeder für sich selbst entscheiden, aber mein Grund, mich genauer mit dem Thema zu beschäftigen ist simpel: es funktioniert für mich in vielen Fällen einfach nicht so. Diejenigen unter den Lesern, die das meiner charakterlichen Unreife zuschreiben, werden gebeten einfach irgendwo eine Kerze für mich anzuzünden und nicht weiter zu lesen. Der Rest ist gerne eingeladen, sich mit mir auf eine Reise mit ergebnisoffenem Ausgang zu machen.

Damit das ganze keine Doktorarbeit wird, ist es sicher sinnvoll, das Problemfeld etwas genauer zu definieren. Hilfreich dafür ist es, das Ganze etwas zuzuspitzen. Nehmen wir einfach die ganzen alltäglichen Kränkungen, Ungerechtigkeiten und ungewollten Kontakt mit dummen Menschen aus der Gleichung. Ich denke es ist offensichtlich, dass man entspannter lebt, wenn man nicht wegen jedem Zusammenstoß – und ist man noch so ungerecht behandelt worden – sofort Blutrache ausruft. Bis hierhin würde ich mich tatsächlich an die Therapieempfehlung meines Küchenabreisskalenders halten. Ein echter Prüffall ist das aber nicht. Wählen wir also für unsere Überlegungen ein schwerwiegendes Ereignis. Nicht einschließen würde ich ebenfalls Ereignisse, die durch einen Unfall ausgelöst wurden. Es ent-kompliziert die Betrachtung etwas, da das Problem des Urhebers bzw. der Verantwortlichkeit nicht auch noch erwogen werden muss. Was bleibt also übrig?

Ich möchte jetzt ganz bewusst nicht komplexe und hoch-tragische Situationen konstruieren, sondern eher nah bei dem bleiben, was vielen Menschen im Alltag unverhofft blühen kann. Da gibt es das Mobbing aus heiterem Himmel, das Gesundheit und Arbeitsplatz kostet, die Gewalttätigkeit, die nicht nur physische sondern auch psychische Schäden anrichtet, das unschuldig verurteilt werden, oder – in meinem Tätigkeitsumfeld leider viel häufiger als mir lieb ist zu sehen – die Trennung von den eigenen Kindern durch falsche Beschuldigungen. Natürlich könnte die Liste noch endlos weitergehen, aber alle Beispiele haben etwas gemeinsam: Es gibt einen konkreten Verursacher, es gab für die Tat keine (ethisch begründbare) Rechtfertigung und die Folgen werden das Opfer wahrscheinlich das ganze Leben lang begleiten. 

Bevor wir über Rache und Vergebung sprechen, müssen wir uns zunächst anschauen, wie solch eine Verletzung oder Trauma überhaupt entsteht bzw. „verinnerlicht“ wird.

Schön und gut, mag man denken, dann muss man eben daran arbeiten, dass wieder zu vergessen. Genau. Schön wäre es. Unglücklicherweise ist das Vergessen von etwas, was es einmal bis in die tiefen Schichten unseres Gedächtnisses geschafft hat, nur mit extrem großen Aufwand möglich. Tatsächliches „Vergessen“ im Wortsinne findet über einen langen Zeitraum gar nicht statt – manchmal nie. Es ist eher so, dass wir uns bemühen müssten, eine Umleitung für die Gedächtnisspur zu bauen, die wir nicht mehr aufrufen wollen. Erst wenn die neue Bahn deutlich stärker als die Alte ist, haben wir eine reelle Chance, nicht immer wieder auf die alte Gedächtnisspur zu fallen. Die „Umleitung“ darf aber kein kleiner Feldweg sein. Da die Verletzung durch Modulation mit Neurotransmittern und hoher emotionaler Beteiligung sozusagen Turbo-gelernt und im Folgenden häufig aktiviert wurde – wobei die dabei beteiligten negativen Emotionen beim Wiederabruf noch für eine weitere Verstärkung sorgen – handelt es sich bei der Gedächtnisspur um eine breite Datenautobahn, die bevorzugt befahren wird, da sich die beteiligten und vernetzten Neuronen in diesem Bereich eben so gut verstehen. Damit eine Umleitung überhaupt in Erwägung gezogen wird, muss die schon ziemlich breit und gut ausgebaut sein. Da wir wahrscheinlich beim Bau der Umleitung keine negativen Emotionen oder Traumatisierungen einsetzen wollen, wird der Prozess eine ganze Weile dauern. Jeder, der schon einmal eine Verhaltenstherapie hatte, weiß, wie mühsam man sich mit kleinen Schritten von alten Gewohnheiten trennt und neue lernt.

Sehen wir uns an, wie so ein Ereignis gespeichert wird. Ohne jetzt tief in die Lerntheorie und Neuropsychologie absteigen zu wollen, können wir 2 Faktoren festhalten:

  1. Das Ereignis wird unter hoher emotionaler Aktivierung gelernt bzw. erlebt. 
    Die entsprechende Ausschüttung bestimmter Neurotransmitter führt zu einer Forcierung des Lerneffekts. Bei Ereignissen, die stark von negativen Emotionen begleitet sind, reicht häufig ein Durchgang für eine lebenslange Erinnerungsspur in unserem Gehirn. Es ist sogar davon auszugehen, dass die Erinnerung an eine hohe Zahl von „Clues“, also Hinweisreizen, gebunden ist, die dafür sorgen, dass es im Alltag ungewollt zu Reaktivierung der Erinnerung kommt. Oft kann und will man die Clues auch gar nicht aus der Lebensumwelt des Betroffenen verbannen. Wie erklärt man einem Vater, der seine Kinder nicht mehr sehen darf, dass er besser auch noch alle Bilder von ihnen abhängt und die Spielsachen verschenkt?

  2. Wegen Punkt 1 kommt es schon kurz nach dem Erlebnis zu einer Verfestigung der Gedankenspur im Sinne der Hebbschen Regel „Neurons who fire together wire togehter“ – d.h. oft genutze neuronale Netzwerke in unserem Gehirn werden tendenziell stärker ausgebaut und leichter aktivierbar.

Genau hier beginnt für mich der Schwachpunkt der „Vergebungstheorie“. Natürlich, wäre ein Opfer in der Lage, die Erinnerung einfach zu überschreiben, wäre es wahrscheinlich die beste Lösung, um die Verletzung zu überwinden. Das mag vielleicht bei manchen Verletzungen auch funktionieren – und ich gebe zu, dass hier sicherlich jeder eine andere Schmerzgrenze hat – aber bei einem Ereignis, der das Leben eines Menschen in den Grundfesten erschüttert hat, halte ich das schlicht für naiv und auf neurobiologischer Ebene für nicht haltbar. Die Idee entstammt vielmehr dem Wunsch nach einem ethisch korrekt handelnden Menschen, hat aber mit der Realität unserer kognitiven Fähigkeiten nichts zu tun. Wer einmal mit Menschen zu tun hatte, die derart schwer verletzt wurden, merkt auch schnell, wie utopisch der Versuch des Vergessens oder auch Akzeptierens ist. Gewaltopfer und Hinterbliebene werden selbst 20 oder 30 Jahre nach dem Ereignis noch von einem unbeabsichtigten Auslösereiz in die Erinnerung gerissen. Nicht umsonst gibt es nur wenige Psychologen, die sich qualifiziert an die Aufarbeitung von Traumata machen.

Daraus folgt natürlich, dass diejenigen, die nicht vergessen können, auch weiterhin mit dem Wunsch nach Genugtuung, Gerechtigkeit oder eben Rache konfrontiert werden. Dieser Wunsch ist dabei ebenso stark wie das auslösende Erlebnis negativ war. Erklärt man diesem Mensch jetzt, dass sein Wunsch nach Rache „schlecht“ ist, macht man ihn zum zweiten Mal zum Opfer. Der Wunsch nach Gerechtigkeit ist eine uralte, angeborene Funktion unseres Gehirns. Schon Experimente mit Kleinkindern haben gezeigt, dass der Wunsch nach Fairness extrem ausgeprägt ist.

In unserem Rechtssystem hat der Staat das Gewaltmonopol und darf deswegen auch exklusiv Rechtsbrüche bestrafen. Natürlich ist ein von Menschen gemachtes Rechtssystem nicht perfekt. Je nach Zustand der Gesellschaft, wird die staatlich ausgeübte Rache, d.h. die Bestrafung nach den Buchstaben des Gesetzes, als gerecht oder angemessen oder auch nicht bewertet. Die Justiz steht dabei immer im Spannungsverhältnis zwischen dem, was das Gesetz vorschreibt und dem, was das Gerechtigkeitsempfinden der Bürger fordert. Eine Position die, so scheint es mir jedenfalls, immer mehr vom Gerechtigkeitsempfinden der Bürger abrückt und abstrakte Rechtspositionen vertritt – aber das ist eine andere Geschichte. Trotzdem waren es die Juristen und nicht die Psychologen, die erkannt haben, dass eine Bestrafung des Täters durch den Staat nicht die persönlichen Bedürfnisse des Opfers ersetzt. In Deutschland steht dazu für bestimmte Fälle der Täter-Opfer-Ausgleich zur Verfügung. Es handelt sich dabei um keine neue Erfindung, sondern wurde bereits in alten Rechtsschriften um 1.800 v. Chr. genutzt. Der Täter-Opfer-Ausgleich bringt eine Komponente ins Spiel, die für einen tatsächlichen Vergebungsprozess unabdingbar ist: die Bitte um Vergebung und Wiedergutmachung. 

Genau hier ist der typische blinde Fleck der Vergebungstheorien und der Schwachpunkt der juristischen Bearbeitung. Natürlich können Vermögensschäden  – und bis zu einem gewissen Punkt auch Gesundheitsschäden – kompensiert werden. Genauso wirkt ein „Es tut mir leid“ als Angeklagter vor Gericht häufig strafmindernd, aber hat sich tatsächlich etwas in der Welt des Opfers geändert? Egal wie hoch die Geldstrafe oder lang die Haftstrafe ist, es wird nicht ungeschehen gemacht. Wie auch? Es gibt nun mal keine Zeitmaschinen. Ganz zu schweigen von den vielen Fällen, die tatsächlich überhaupt nie vor Gericht verhandelt werden (können). 

In alten Kulturen findet man bei der Rechtsprechung oft „Auge um Auge“ Konzepte, die für einen Ausgleich sorgen sollen. Häufig im Kombination mit der Tatsache, dass das Opfer die Strafe selber ausführen bzw. abmildern kann. Abgesehen von den ethischen Problemen solch einer Auge-um-Auge Bestrafung ist es bei vielen Delikten einfach nicht möglich, gleiches mit gleichem zu vergelten. Des weiteren würde eine solche Rechtsordnung auch nicht ohne die Todesstrafe auskommen, was aus anderen Gründen keine gute Idee ist. Trotzdem gibt es aber einen Aspekt, den ich für sehr wichtig halten würde. Es gibt die direkte Möglichkeit des Opfers, über das Strafmaß mit zu bestimmen. Das Hauptkennzeichen eines Opfers ist seine Machtlosigkeit. Das Ausgeliefert-sein gegenüber dem Aggressor. Die Erfahrung, dieses Verhältnis umdrehen zu können, ist aus psychologischer Sicht ein wichtiger Aspekt. Es öffnet die Tür zur Neubewertung.

Der bereits erwähnte Täter-Opfer-Ausgleich, den es in Deutschland seit Anfang der 90-er Jahre gibt, geht diesen Weg nur teilweise. Trotzdem ist er ein wichtiger Schritt, dem Opfer seine Autonomie wieder zu geben. Eine besondere Rolle spielt beim Täter-Opfer-Ausgleich die Wiedergutmachung. Während im Strafverfahren der Fokus nur auf der Strafe des Täters liegt, stehen hier jetzt zum ersten Mal die Folgen für das Opfer im Vordergrund. Gerade im Jugendrecht ist auch die direkte Konfrontation des Täters mit den Folgen seiner Tat für die Lebensführung des Opfers doppelt hilfreich.

Wie man sieht, hat also sogar die Justiz das Problem mit der Vergebung und dem Verzicht auf Rache erkannt, während man in der Psychologie oder Ethik gerne noch von einem Wunschbild ausgeht.

Leider sind die neueren Erkenntnisse der Psychologie auch nicht besonders ermutigend für die Opfer. Einer der Gründe dafür ist das sich langsam wandelnde Verständnis von Schmerz. Nachdem Schmerz zuerst für ein rein körperliches Symptom gehalten wurde, gab es danach die Erkenntnis, dass es durchaus auch psychosomatische – also seelische – Ursachen für Schmerz geben kann. In letzter Zeit hat sich die Lücke zwischen den beiden Bereichen mehr und mehr geschlossen. Wer heute einen Menschen in den Hirnscanner legt, wird bei körperlichem Schmerz und „sozialem“ Schmerz, z.B. durch Ausgrenzung oder Einsamkeit, sehr ähnliche Aktivierungsmuster finden. Etwas verkürzt könnte man sagen, dass ein gebrochenes Bein und Herz den gleichen Schmerz verursachen. Wer sich tiefer in diese Frage einarbeiten möchte, dem sei das Buch „Schmerzgrenze“ von Joachim Bauer ans Herz gelegt. 

Die Erkenntnis, dass sich die Schmerzmuster gleichen, hat zu vielerlei neuen Ansätzen geführt. So wurde z.B. in Altenheimen registriert, dass einsame alte Menschen anfangen, sich instinktiv selber mit Schmerzmitteln (z.B. Ibuprofen) zu behandeln. Anderswo nutzt man diesen Effekt für die Soforthilfe bei Depressionen, weil die typischen Antidepressiva Wochen brauchen, bis sie wirken – falls überhaupt. 

ACHTUNG: Ich würde jedem abraten, seine (psychosomatischen oder depressiven) Beschwerden eigenmächtig mit Medikamenten zu behandeln. Suchen Sie sich lieber einen Arzt, der mit der neuesten Forschung vertraut ist. Schmerzmittel sind kein Spielzeug!

Das Problem bei Schmerz ist nicht nur der Schmerz selbst, sondern eine mögliche Chronifizierung. Bleiben Schmerzen über mehrere Monate bestehen – was ja der Regelfall bei schwerwiegenden emotionalen Verletzungen ist, besteht die Gefahr der Chronifizierung. Wie weiter oben schon gelernt, werden auch diese Schmerzgedächtnisspuren im Gehirn mit jeder Aktivierung breiter und stärker. Irgendwann bildet sich eine Art Schmerzgedächtnis, auch wenn die eigentlichen Ursachen nicht mehr vorliegen. 

Wie man sieht, müssen Opfer weit über die Tat hinaus mit den Folgen der Ereignisse leben. Wie könnte man diesen Menschen denn am besten helfen? Ich bezweifle, dass der Rat „das alles hinter sich zu lassen“ tatsächlich schon einmal funktioniert hat. Natürlich könnte man das emotionale Empfinden auch mit Hilfe von Chemie herunter dimmen, aber auch hier müsste das Opfer mit weiteren Einschränkungen in der Lebensführung rechnen. Guter Rat ist teuer, aber manchmal hilft es zu schauen, welche Mechanismen uns die Natur – unterstützt durch endlose evolutionäre Prozesse – so an Werkzeugen mitgegeben hat.

Haben Sie sich schon mal angesehen was passiert, wenn Kleinkinder miteinander spielen und sich eins weh tut? Es passt natürlich nicht immer, je nachdem wie die Kinder sozialisiert wurden, aber der „pure“ Effekt ist immer ähnlich. Es wird Trost gespendet. Es erfolgt kein Hinweis, dass es ja auch viel schlimmer hätte kommen können, dass der blöde Typ, der das Bein gestellt hat, dafür jetzt geschimpft bekommt oder dass man sich einfach nicht so anstellen soll. Nix davon passiert. Im Gegenteil. Es wird mit einer geballten Welle an Empathie geantwortet, fast so als ob der Tröster den Schmerz selber spüren könnte, es wird körperliche Nähe gesucht (Umarmung oder gerne auch mal auf die Aua-Stelle pusten) und nach einer Schrecksekunde schimpfen dann beide wie die Kesselflicker auf den Übeltäter. Ich denke, davon kann man viel lernen.

Es wird hier nämlich nicht rationalisiert – weil Menschen eben auch keine rationalen Wesen sind – sondern solidarisiert. Allein die Tatsache, dass man mit seinem Problem nicht mehr allein ist, macht es leichter. Das Solidarisieren hat aber noch einen weiteren Effekt. Es zeigt dem Opfer, dass es im Recht ist und die Sache nicht seine/ihre Schuld war. Diese zwei Aspekte: (Auf)teilung des Schmerzes und Absolution sind mächtige Hilfsmittel, um eine weitergehende Traumatisierung zu vermeiden. Für den Psychologen mit Kassenzulassung stellt diese Sichtweise – je nach Schule, der er angehört – ein erhebliches Problem dar. Er darf sich nämlich nach den allgemeinen Regeln der Therapie nicht mit dem Patienten soweit solidarisieren, dass eine erhebliche emotionale Verbindung – die für ein echtes Teilen des Schmerzes notwendig wäre – möglich ist. Es ist sicher auch von der Erfahrung des Therapeuten abhängig, aber es ist in jedem Fall ein Balanceakt. Viel einfacher ist es für die Freunde und Angehörigen. Als erste (und zweite) Hilfe kann man durchaus raten: Leiden Sie mit (sofern Sie das aushalten können – Selbstschutz geht vor). Solidarisieren Sie sich. Geben Sie keine Ratschläge. Seien Sie da! Geben Sie Nähe, hören Sie zu – auch wenn Sie die Geschichte schon 1000 x gehört haben. Versuchen Sie bei der Erzählung möglichst zeitnah auch positive Clues durch kurze Fragen mit einzubauen. Ein Elternteil, den es quält, dass er seine Kinder nicht sieht, kann man durchaus auch mal fragen, was er denn jetzt gerne mit seinen Kindern machen würde. Es wird ein trauriger Moment bleiben, aber man baut damit vorsichtig die Fundamente für die „Umleitung“ im Gehirn. Fingerspitzengefühl ist hierbei von besonderer Wichtigkeit. Je nach der Ursache der emotionalen Verletzung sind unterschiedliche Schritte notwendig. Die Grundidee ist es, in dem betroffenen Themenkomplex langsam wieder positive Ereignisse – und damit auch Erinnerungen – zu kreieren. Es ist ein langwieriger Prozess, der von allen Beteiligten wirklich viel verlangt. Entsprechende Handlungs- und Therapieansätze zu beschreiben, würde hier leider den Beitrag sprengen, aber ich denke, dass ich die Grundidee deutlich gemacht habe.

Ein erheblicher Wirkfaktor bei der Verarbeitung von emotionalen Verletzungen ist die Frage, ob es eine Entschuldigung und eine Wiedergutmachung gab. Gerade bei nicht-justiziablen Ereignissen und im eigenen sozialen Umfeld, wird es kaum externen Druck auf den Täter geben. Auch ein dahingesagtes „Sorry“ erfüllt im Regelfall nicht den Zweck. Entschuldigungen werden erst wertvoll durch die Verknüpfung mit einem Akt der (symbolischen) Wiedergutmachung. Die Wiedergutmachung sollte ein Opfer für den Täter darstellen, dass der Tat angemessen ist. Manchmal ist dies nicht möglich. Dann kann man sich für eine symbolische Wiedergutmachung entscheiden. Für das Opfer ist es sinnvoll zu erarbeiten – am besten in Zusammenarbeit mit einem Therapeuten oder Vertrauensperson – was als Entschuldigung und Wiedergutmachung angemessen wäre. Es hilft einem dabei, einen möglichen Schlusspunkt für das Leiden zu definieren. Sehr häufig reicht tatsächlich schon eine ernst gemeinte Entschuldigung des Täters aus, evtl. begleitet von einer symbolischen Wiedergutmachung. Wenn dies möglich ist, hat das Opfer gute Chancen, der Abwärtsspirale zu entkommen. Leider kommt es in vielen Fällen nicht oder viel zu spät dazu. 

Wenn die Wiedergutmachung fehlt, bleibt nur das langfristige Arbeiten an positiven Erfahrungen. Gerade die Angehörigen/Freunde sind dabei wichtige Bezugspunkte. Die Solidarisierung mit dem Opfer durch einfache Sätze wie „Ich bin auf deiner Seite. Ich finde es total ungerecht was Dir passiert ist. Dich trifft keine Schuld“ lösen auch noch Jahre nach dem Ereignis ein Gefühl der Erleichterung beim Opfer aus.

Was bleibt, ist die Frage nach der Rache. Im besten Fall ersetzt die Wiedergutmachung die Rache. Leider ist dies häufig nicht möglich. Trotzdem kann man natürlich niemanden raten, Selbstjustiz oder Straftaten zu begehen, um Genugtuung zu empfinden. Insbesondere birgt die „Selbstjustiz“ auch die Gefahr einer sich hochschaukelnden Eskalation, z.B. wie im Modell nach Glasl, bei der die letzte Stufe bezeichnenderweise „Gemeinsam in den Abgrund“ heißt. 

Aus logischer Sicht bleiben nur zwei Möglichkeiten: Sich auf eine Art zu „revanchieren“, die eher eine Art Streich als Straftat ist – was ich für die meisten Fälle als extrem schwierig halten würde – oder ein Re-Framing des Wunsches nach Rache. In solchen Fällen deutet man das Racheziel in einen konstruktiveren Kontext um, z.B. dem Typ, der mich gemobbt hat, zeige ich es, indem ich in meinem neuen Job total erfolgreich bin und viel mehr verdiene als er. Wenn ich das dann geschafft habe, schicke ich ihm ein Foto von mir im Urlaub auf den Malediven mit der Kopie meines Gehaltszettels. Der Fantasie solcher Re-Framings sind keine Grenzen gesetzt, erfordern aber auch die „Mitarbeit“ eines Familienmitglieds bzw. Therapeuten, damit tatsächlich auch positive, erreichbare Ziele definiert werden. Gelingt es, ein solches Ziel zu definieren, kann Rache und ein stückweit auch Wiedergutmachung wirkungsvoll ersetzt werden. Es ist dann nicht mehr nötig, das Opfer in einen Racheverzicht hineinzudrängen, das dem Gerechtigkeitsempfinden widerspricht und die Verarbeitung des Traumas nur schwieriger macht.

Besonders gut kann man dieses Konzept auch auf Kinderspielplätzen beobachten. Wenn der blöde Sören die Sandburg kaputt gemacht hat, nimmt Marlene den kleinen Leo in den Arm und sagt: „Lass doch den Blödmann! Wir bauen eine viel schönere und der darf nicht mitmachen.“ Alles dabei: Solidarisierung, Nähe/Support, Re-Framing. So geht gute Psychologie.

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Erklärbär!

In den letzten Jahren gab es hier immer nur Texte. Damit das Ganze etwas abwechslungsreicher wird, gibt es ab jetzt Gelegentlich auch mal einen Videobeitrag. Hier also der „Pilotfilm“. Stammleser werden merken, dass dieser erste Beitrag nicht ganz die politische Tiefe der schriftlichen Beiträge hat, aber das wird noch. Versprochen!

Ansonsten freue ich mich wie immer über Kommentare und Feedback aller Art.

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Auf der Suche nach Unseresgleichen

Irgendwie schon verrückt. Wir geben das Recht, über wesentliche Aspekte unseres Lebens zu bestimmen, einfach so ab – abgesehen von der Möglichkeit, alle paar Jahre zwischen Pest und Cholera zu „wählen“. Wer hat sich das eigentlich ausgedacht? Klar, Demokratie ist die „gute“ Staatsform. Auch werden wir – z. B. aktuell in Deutschland – immer wieder aufgerufen, die Demokratie zu „verteidigen“. Ist ja im Prinzip ja auch eine gute Idee. Alle dürfen mitbestimmen, bzw. bestimmen, wer bestimmen darf. 

Um einen Vertreter zu wählen, gibt es verschiedene Möglichkeiten. Das haben wir alle schon in der Schule erlebt, als ein Klassensprecher gewählt wurde. Wählen wir den Schlauesten (Streber?), den Coolsten (Blender?), einen Kumpel (Lobbyist?) oder einfach nach Sympathie – was dann u.U. ein individueller Mix von allem ist. Keine leichte Entscheidung. 

In unserer Gesellschaft ist das Wählen einer Elite verpönt. Zu tief stecken die schmerzhaften Erinnerungen des arischen Übermenschen in unseren Knochen, als dass wir mit Eliten noch vorurteilsfrei umgehen könnten. Das es in Deutschland tatsächlich so etwas wie Leistungseliten gibt, halte ich nach der Lektüre aktueller Forschung (z.B. Hartmann), eher für unwahrscheinlich. Es gibt es einen Geldadel oder Bildungsbürgertum. Was die aber so wirklich zum sozialen Wohlstand in Deutschland beitragen – oder auch nicht – wäre eine eigene Geschichte wert.

Eingebürgert hat sich, dass man „einen von uns“ wählt. Kaum ein Politiker, der sich nicht für seine Bürgernähe rühmt, oder quasi „Alles“ über die Nöte des „kleinen Mannes“ weiß. Ob das stimmen kann, lässt sich ja mit einer simplen Analyse feststellen. Zuerst müssen wir zu diesem Zweck einen Durchschnittsdeutschen – quasi Klaus Mustermann – definieren. 

Damit der Text besser lesbar ist, stelle ich die Infografiken, die die entsprechenden Detaildaten enthalten, ans Ende. Alle Infos stammen aus den offiziellen Datenbanken des statistischen Bundesamtes.

An manchen Stellen lauern da ein paar Tücken, z.B. bei der Einkommensbetrachtung. Wenn Deutschland aus 10 Personen bestehen würde und 9 verdienen 2.000€ im Monat, aber einer verdient 1.000.000€, wäre das Durchschnittsgehalt der Deutschen höher als 100.000€ im Monat. So kommt man übrigens auch auf (laut statistischem Bundesamt) ca. 3.500€, die der Durchschnittsdeutsche (brutto) im Monat verdient.

Basteln wir uns also unseren „Musterdeutschen“. Höchstwahrscheinlich wohnt er in Nordrhein-Westfalen (bevölkerungsreichstes Bundesland), irgendwo in der Vorstadt.

In NRW liegt der Stundenlohn im Schnitt bei 21,60€, was dann etwa auf die bereits genannten ca. 3.500€ im Monat (brutto) hinausläuft. Tatsächlich dürfte die Zahl etwas geringer ausfallen. Eine andere Statistik des DeStatis zeigt, dass ein Großteil der steuerpflichtigen Personen bei einem Jahresverdienst zwischen 15.000€ und 37.499€ angesiedelt ist. Nehmen wir davon die Mitte, landen wir bei ca. 26.000€, oder knapp 2.200€ im Monat. Das hört sich dann schon deutlich knapper an, kommt aber offiziellen detaillierteren Statistiken deutlich näher.

Da man über die beiden Werte trefflich streiten kann, nehme ich für unseren Musterdeutschen einfach mal auch hier die Mitte und gehen von einem Einkommen von 2.850€ brutto im Monat aus – was wahrscheinlich aber zu hoch ist.

Die Firmen mit den meisten Arbeitern in Deutschland liegen im produzierenden Gewerbe oder Handel. Herr Mustermann ist also wahrscheinlich Fabrikarbeiter oder Verkäufer.

Höchstwahrscheinlich hat Herr Mustermann eine Berufsausbildung ohne Studium absolviert, bevor er im Berufsleben durchgestartet ist.

Nur ca. 40% der Menschen in Deutschland haben Wohneigentum. Herr Mustermann wohnt also zur Miete. Ziemlich sicher empfindet er die Wohnkosten als Belastung.

Außerdem ist der gute Herr Mustermann zwischen 40 und 60 Jahren alt, heterosexuell, verheiratet oder geschieden und hat 1,6 Kinder, na gut, sagen wir 2. Damit können wir von einem 4 Personenhaushalt ausgehen. Wenn Herr Mustermann eine gleichaltrige Frau geheiratet hat, wird diese zu ca. 70% auch arbeiten – viele davon allerdings nicht in Vollzeit. 

Das bedeutet in Kurzform also: 

40- 60 Jahre, ca. 2.850€ brutto – und damit rund 2.100€ netto-  verheiratet bzw. geschieden, 1-2 Kinder, wohnt zur Miete irgendwo in der Vorstadt, hat eine Lehre gemacht und verdient jetzt sein Geld in der Fabrik oder im Handel.

Das wäre also ein typischer Bürger, der von „seinesgleichen“ im Bundestag vertreten werden soll. Welche bzw. wie viele unserer Volksvertreter haben wohl einen ähnlichen Hintergrund und können damit fundiert über die Sorgen und Nöte der Bevölkerung sprechen? Leider fehlt die Zeit für eine Analyse aller Bundestagsabgeordneten. Schauen wir uns stattdessen einfach mal unsere Minister an.

Quelle: Wikipedia – Irrtum vorbehalten

Beim Einkommen lassen sich da schon mal kaum Gemeinsamkeiten zu Herrn Mustermann finden. Der Einfachheit halber ohne die – durchaus erheblichen – Zuschläge gerechnet, bekommt Frau Merkel 18.851€ im Monat und die Minister 15.311€. Das finde ich okay. Immerhin ist es ein Job mit viel Verantwortung und Arbeitsstunden. Spannend finde ich es allerdings, dass wahrscheinlich keiner mit seinem erlernten Job auch nur in die Nähe dieser Summen gekommen wäre – insbesondere, weil für fast alle der Start in die Berufspolitik schon oft kurz nach Studienabschluss erfolgte. So ist z.B. Herr Spahn nach seiner Banklehre fast unmittelbar in die Berufspolitik gewechselt und hat dann nebenbei studiert. Kommt bei Ministern scheinbar sowieso häufig vor: nebenbei studieren. Respekt. Ein ausgefülltes politisches Berufsleben, oft Familie und dann noch Studium und häufig Promotion. Kommt da vielleicht irgendwas zu kurz?

Von der Expertise handelt es sich in der Mehrzahl um Anwälte (zu den Berufen der Bundestagsabgeordneten habe ich bereits im Beitrag „Demokratie 2.0„) oder um Menschen, die Politik studiert haben – was wird man damit eigentlich in der freien Wirtschaft?

Wie man sieht, können die (meisten) Minister die echten Lebensumstände des „kleinen Mannes“ aus eigener Erfahrung nicht kennen. Sie sind mit einem kurzen oder nicht vorhandenen Gastspiel direkt in die Welt von Verbänden, Beamten oder Funktionären abgetaucht, bevor es dann in die Profi-Liga der Politik ging.

Das sind die „Volksvertreter“ in Deutschland.

Demokratie in Deutschland bedeutet also, dass der normale Bürger sein Recht auf Selbstbestimmung weitestgehend abgibt, um alle 4 Jahre zu wählen. Ein Großteil der zur Auswahl stehen Parteien unterscheiden sich nur auf dem Papier. Mit dem Ergebnis werden dann Koalitionen gebildet, obwohl der Wähler nur eine einzelne Partei gewählt hat. Diese Koalition erstellt dann ein Kompromiss-Programm und stellt die Bundeskanzlerin. Die wählt dann ihrerseits die Minister aus. Diese Minister haben mit dem Durchschnittsdeutschen quasi nichts gemein und stehen dann einem Ressort vor, von dem sie keine Ahnung haben bzw. das wahrscheinlich nicht ihrer Ausbildung entspricht. Dafür bekommen sie dann ein Spitzengehalt und zahlen weder in die Renten- noch Arbeitslosenversicherung , etc. ein.

Irgendwie hört sich Demokratie nach dieser Beschreibung nicht mehr so attraktiv an, aber wir dürfen nicht ihr die Schuld geben. Wir haben nämlich zugelassen, dass sie schon vor langer Zeit entstellt und kastriert wurde. Es ist mehr so eine Art Pseudo-Demokratie, die den Anschein erweckt, dass hier doch alles in Ordnung ist während die Oligarchen, Konzerne und Erben entspannt in die Zukunft schauen können.

Das muss nicht so bleiben. Allerdings ändern wir das politische System – in der jetzigen Parteienlandschaft – nicht mit Wahlen. In Frankreich sieht man im Moment mit den Gelbwesten, wie wirkungsvoll ein Bürgerprotest sein kann. Nun ist Deutschland nicht Frankreich und ein echter Deutscher nimmt nur an einer Revolution teil, wenn sie im Fernsehen übertragen wird und Günther Jauch moderiert. Bisher wenigstens. Aber das könnten wir ändern.

Τhukydides schrieb in der Geschichte des Peloponnesischen Bürgerkrieges „Tue der Starke, was er könne, und erleide der Schwache, was er müsse“. Die Politik hat hier die Rollen vertauscht und uns zu Schwachen gemacht die erleiden müssen, was die Starken sich ausdenken. Tatsächlich sind es aber nur Scheinriesen, die heute die Kontrolle ausüben. Was uns fehlt ist nur der Funke, der die Wut der Bürger entzündet, damit sich die wahren Kräfteverhältnisse offenbaren.

Wenn wir uns auf Politiker und Parteien verlassen, haben wir nichts Besseres verdient.

Danke fürs Lesen.

Euer Christian
#keinPolitiker

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Der disruptierte Informatiker

Im letzten Sommer bin ich 50 geworden. Ein halbes Jahrhundert! Im Mittelalter wäre ich damit schon ein Greis und würde sicherlich mir Ehrfurcht als Weiser behandelt werden. Tja, die Zeiten sind vorbei. Tatsächlich wird man mit 50 zwar noch nicht zwingend altersmilde, aber so einiges erlebt hat man schon. Ich kann z.B. auf mehr als 35 Jahre Berufserfahrung in der IT zurück schauen. Meine Generation war im Prinzip die erste, die in ihrer Jugend schon früh mit „Computern“ umgegangen ist und natürlich war man über lange Zeit der Einzige, der die Uhr am Videorekorder einstellen konnte.

Ich hatte Glück mit meinem Job. Ich war immer an den Momenten aktiv dabei, wenn es zu größeren Umbrüchen – heute heißt das disruptive Technologien – kam. Das bedeutet, immer dann, wenn sich Altbewährtes plötzlich in Nutzloses verwandelte, weil es etwas (manchmal vermeintlich) Besseres gab. Es ist aufregend, bei solchen Entwicklungen dabei zu sein, und in jungen Jahren war ich davon so sehr verzaubert, dass mir die Folgen von solchen Paradigmenwechseln nicht wirklich klar waren. Erst über die Jahre, und nachdem ich viele davon gesehen und deren Folgen begleitet hatte, wurde mir klar, was „disruptiv“ wirklich bedeutet.

Die IT ist im Moment der viel gepriesene Heilsbringer unseres Wirtschaftssystems. Wir bauen so sehr darauf, dass wir z.B. die Bildung unserer Kinder schon extrem früh für den Umgang mit IT optimieren. Kein innovativer Kindergarten ohne „Computerführerschein“ und keine gute Grundschule ohne Smartboard. In den höheren Schulen gerne auch mal ein Tablet für alle und natürlich wollen wir, dass das Kind später Informatik studiert. Es soll es doch mal besser haben. Da ich auch 4 Kinder in verschiedenen Altersstufen habe, höre ich solche Debatten häufig von anderen Eltern. Seltsamerweise scheinen die meisten relativ wenig von der Entwicklung der IT-Märkte und Technologien zu verstehen, dafür, dass sie ihr Kind für dessen Einsatz genau dort optimieren wollen. Ein Kind, das heute in den Kindergarten kommt, hat ca. 20 Jahre, bevor es am Ende – vielleicht eines Informatikstudiums – den Eintritt ins IT-Berufsleben wagen kann. 20 Jahre! Haben wir eine ungefähre Vorstellung, was sich in der IT in 20 Jahren alles ändern kann, und vor allem – welche Auswirkungen diese haben?

Prognosen sind schwierig, besonders wenn sie sich auf die Zukunft beziehen, sagt eine alte Redewendung. Letztlich kann niemand – selbst die besten Experten – nicht vorhersehen, was in der IT auf uns zu kommt. Ich erinnere dabei an das Zitat von Thomas Watson (CEO von IBM): „Ich denke, dass es weltweit einen Markt für vielleicht fünf Computer gibt”. Das war 1943. 20 Jahre später, also 1963 waren Computer schon der „Hot Shit“ – wenn auch noch etwas sperrig. Heute ist Watson der Namensvetter der fortschrittlichsten KI (Künstliche Intelligenz) Lösung die es zur Zeit im Markt gibt – von IBM. Die Watson KI gewinnt mittlerweile sogar bei Jeopardy und hilft Medizinern bei Diagnosen.

Die Qualität der Vorhersagen ist heute keineswegs besser. 1995 hielt Bill Gates das Internet noch für einen Hype, mit dem man niemals Geld verdienen könnte. Auch bei uns gibt es solche Propheten. So hat z.B. Matthias Horx, der gefragte Zukunftsforscher und Ratgeber der Wirtschaft, im Jahr 2001 bereits das Ende des digitalen Rausches in einem umfangreichen Artikel in der WELT verkündet. Kernthese des Artikels: „Das Internet wird kein Massenmedium“. Na Glückwunsch!

Meine ersten Erfahrungen mit disruptiven Entwicklungen starteten in der achten Klasse. Dort war nämlich ein Berufspraktikum angesagt. Ein Laune des Schicksals spülte mich, den Hauptschüler vom Land, dabei in die große Stadt (Mainz) und mitten in das Landesrechenzentrum Rheinland Pfalz. Hier fand die ganz große IT statt – im wörtlichen Sinne. Das Papier für den Drucker wurde mit dem Gabelstapler eingelegt. Der Drucker selbst war begehbar und der Computer war über eine ganze Sporthalle verteilt. Ich war jetzt also für die nächsten Wochen im „Computerbusiness“. Es war der Himmel für mich. Ich durchlief alle Abteilungen und habe viel gelernt. Dazu gehörte allerdings auch zu erkennen, dass es eine klare Hierarchie in der Welt der Computer gab. Ganz unten waren die Datentypistinnen – damals fast ausschließlich Frauen. Dort wurde „am Computer“ gearbeitet. Das war hochmodern und ein super bezahlter IT-Job. Praktisch wurden aber den ganzen Tag nur Zahlenkolonnen eingegeben und es war letztlich eine angelernte Tätigkeit. Zum Glück musste ich dort nur wenige Tage verbringen. Dann ging es weiter zum Maschinenraum. Ich durfte dem „Operator“ helfen. Magnetbänder einlegen, Lochkarten einlesen, Fehlermeldungen bearbeiten – das war der Himmel für mich. Schon nach kurzer Zeit ließen mich die Operator einfach allein und ich durfte den Laden „schmeißen“. Das lag nicht daran, dass ich so schlau gewesen wäre. Es war letztlich auch nur eine angelernte Tätigkeit. Irgendwo im Gebäude gab es dann auch noch „Programmierer“. Das war die Elite. Die dürfte man nicht besuchen oder stören, weil man ja „sowieso nicht verstehen würde, was da gemacht wird“.  Das Lustige an der Sache war, dass ich kurze Zeit später zu Hause schon mehr Rechenpower im Kinderzimmer stehen hatte, den Commodore C64, und die meisten Jobs aus dem Rechenzentrum schon wenige Jahre später nicht mehr existierten.

Quelle: Opel-Post

Es traf aber nicht nur die IT-Spezialisten. Viel schneller und härter traf es andere Berufsgruppen. Meine Ausbildung machte ich in den Fabrikhallen von Opel in Rüsselsheim als Elektroniker. Ich hatte einen „guten“ Zeitpunkt erwischt. Die Roboter hielten in die Fabrikation Einzug. Ganze Berufsgruppen, z.B. die Schweißer, wurden hinfällig. Natürlich wurden die dann arbeitslosen Schweißer nicht als Programmierer wieder eingestellt. Die Jobs waren auf ewig verloren. Die Automatisierung traf aber auch andere Berufsgruppen. Während man auf dem Land bestenfalls Schlosser lernen konnte, gab es in der Industrie den Dreher. Es war ein begehrter Metallberuf, der schon in der Ausbildung sehr gut bezahlt wurde. Und man brauchte eine Menge davon. Plötzlich erschienen die ersten CNC-Drehmaschinen auf der Bildfläche, bei denen der Computer plötzlich die Steuerung der Maschine übernahm. Erst wurde das Berufsbild noch entsprechend angepasst, aber es wurden tatsächlich immer weniger Dreher benötigt. Auch diese Jobs verschwanden, oder die Bewerber wurden mit neuen „Berufsbildern“, z.B. „Teileeinrichter“ – jemand der letztlich Teile in eine Maschine legt – aufgefangen. Selbst die „Informatiker“ jener Zeit – die Elektroniker und Ingenieure – traf es hart. Diese Menschen konnten alle Mc Gyver Konkurrenz machen und mit einer Haarnadel und Isolierband eine komplizierte Maschine bauen, aber von Programmierung hatten sie keine Ahnung. So kam es, dass ich als kleiner Lehrling mit meinen am C64 erworbenen Kenntnissen, plötzlich gefragt war. Eine ganze Generation leitender Ingenieure sah sich damals plötzlich ausgemustert. Die benötigten Fachkräfte wurden meistens aus dem Ausland geliehen und noch bevor alle weitergebildet oder umgeschult worden waren, hatte die nächste Generation Technologie auch wieder viele dieser neuen Jobs unnötig gemacht.

Solche Ereignisse gab es noch viele, z.B. als nach der Lehrerschwemme in den späten siebziger Jahren (gefühlt) alle arbeitslosen Lehrer vom Arbeitsamt in SAP Berater umgeschult wurden. Damals hochbegehrt, war 20 Jahre später war kaum einer von diesen hochbezahlten Jobs übrig. Die Technologie hatte sich gewandelt. Ich könnte ein Buch mit solchen Geschichten füllen.

Spricht das nicht alles dafür, dass wir den überlauten Forderungen nach Informatikern nicht nachkommen und dringend möglichst viele Kinder auf solch eine Laufbahn vorbereiten sollten? Eben nicht! Die „Industrie“ ist nicht unbedingt für deren langfristige Planungen bekannt. Eher dafür, dass ein Geschäftsmodell bis zum Erbrechen gelebt wird, solange nichts auftaucht, was mehr Umsatz verspricht. Das Ganze konnte man z.B. sehr schön am Beispiel Elektroautos verfolgen. Außer Marketing gab es bisher von den großen Automobilherstellern im Wesentlichen nix. Deswegen haben die Firmen, die unbestritten zur Zeit einen extrem hohen Bedarf an qualifizierten (und spezialisierten) IT Fachkräften haben, im Ernstfall auch kein Problem, unseren Kindern in ein paar Jahren, wenn durch eine weitere disruptive Technologie diverse Sparten der IT nicht mehr benötigt werden, nach erfolgreichem Studium usw. zu sagen: „Sorry. Brauchen wir nicht mehr, aber Danke für den Versuch.“ Dafür haben wir dann die Kinder ein halbes Leben lang ausgebildet.

Glaubt ihr nicht? IT Leute werden immer gebraucht? Werfen wir doch mal einen Blick in die Branche. Bei den Stellenangeboten sieht man 2 Gruppen (etwas vereinfacht). Die einen sollen den Laden am Laufen halten. Netzwerktechniker, Systemadmins, teilweise auch noch Webentwickler, usw. Das ist sozusagen das IT-Proletariat. Man verdient noch gut, aber es gibt immer noch einen hungrigen Studenten der das im Zweifelsfall billiger macht. Nur wenige Prozent dieser Jobklasse enthält wirklich unternehmenskritische Positionen, die personengebunden sind. Die ersten dieser Jobs sind bereits vor Jahren der Technik zum Opfer gefallen. Intelligente Diagnosetools, Programmgeneratoren, genormte Schnittstellen und eine große Anzahl von bereits bestehenden Anwendungen haben schon so manchen Programmierer für „Hausmannskost-IT“ überflüssig gemacht. Ganz anders sieht es bei den Shootingstars aus: den Spezialisten für Machine Learning und künstliche Intelligenz. Das sind die Jungs, die Siri, Facebook, Amazon und Google das Denken beibringen. Es ist schon fast Satire, dass gerade der langweiligste Zweig der Mathematik, die Statistik mit ihren teilweise jahrzehntealten Verfahren, mittlerweile das Tempo in der IT angibt. Diese vergleichsweise kleine Elite ist es, die tatsächlich im Moment IT Innovation macht. Lernen kann das im Prinzip jeder, aber nur die wenigsten werden tatsächlich zwischen Algorithmen und Statistiken glücklich, bzw. finden dort ein erfülltes Berufsleben. Den restlichen Informatikern wird es über kurz oder lang so gehen wie all den anderen IT-Profis, die auf einer Technologiewelle surfen. Irgendwann erreicht sie den Strand und dann kommt von hinten die nächste die einen ersäuft. Man muss eigentlich kein Hellseher sein, um zu merken, dass die Informatiker von heute die Arbeitslosen von 2040 sind. Immerhin sind sie dann wahrscheinlich länger im Geschäft als viele aus anderen Branchen.

Buch „The Human Face of BIG DATA“

Und was ist mit den ganz schlauen Siri & Co. Programmierern? Genau genommen arbeiten die gerade daran, ihre eigenen Jobs zu ersetzen. Zum Beispiel sind die ehemals höchstbezahlten BIG DATA Spezis (anfangs erforderten Auswertungen dieser Datenbestände ein großes Maß an Know-How und Handarbeit) vermehrt mit entsprechender Anwendersoftware konfrontiert, die auch Nicht-Gurus entsprechende Auswertungen, z.B. auf grafischer Basis, ermöglichen. Sozusagen Excel statt Programmierer. Dazu kommt, dass im Moment die Fähigkeiten einer KI zwar beeindruckend, aber doch noch erheblich limitiert ist. Es ist aber nur eine Frage der Zeit – und die Fortschritte der letzten 10 Jahre waren enorm – bis letztlich Programme Programme schreiben. Und dann? Dann wird es plötzlich gar keinen Bedarf mehr für die ehemals händeringend gesuchten IT Profis geben.

Ich denke, das sollte man im Auge behalten, wenn man heute den Kindergarten nach „Computerführerschein“ etc. aussucht. Selbst für die jungen Leute, die heute ein Studium antreten, könnte es schon mehr als knapp werden. Lebenslange Lernbereitschaft nützt da gar nichts, wenn man gegen einen Computer antritt.

https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=68575690

Und jetzt? Gar nix mehr lernen? Netflix & Chill bis zum Ende? Ganz im Gegenteil. Es gibt ein gutes Interview – nur wenige Minuten – mit Jack Ma, seines Zeichens Internet-Milliardär und sicher in der Branche gut vernetzt. Schon ein Blick auf seinen Lebenslauf ist überaus interessant. Details dazu finden sich hier. In Kurzform, er war keineswegs der typische IT-Genius. Er verfügt noch nicht einmal über eine spezifische IT Ausbildung. Heute ist er der Schöpfer eines der größten IT Imperien der Welt. Was rät also Jack Ma, was wir unseren Kindern beibringen sollen? Alles das, was Maschinen nicht gut können bzw. noch sehr lange nicht gut können werden. Er plädiert für eine Ausbildung in Musik, bildende Künste, Fairness, Nächstenliebe und weiteren Dingen, die man sonst eher auf einer Waldorfschule verorten würde. Die Logik dahinter ist ganz einfach. Wir werden die Maschinen auf ihrem Terrain nicht schlagen. Wir müssen uns darauf besinnen, was typisch menschlich ist. Auch wenn diese Bastion vielleicht irgendwann einmal fällt, so wird es doch genau hier noch am längsten Aufgaben für Menschen geben.

Jobs für Alle und die Rückkehr zur Vollbeschäftigung ist ein Märchen für dumme Kinder. Ein Großteil der Jobs wird für immer in die Welt der Maschinen verschwinden. Das gilt für die qualifizierten Jobs genauso wie für den Mindestlohn-Job im Callcenter, der bereits heute von einem Chat-Bot übernommen werden kann. Wir müssen aufhören, die Ausbildung unserer Kinder an die Forderungen von Industrie und Aktionären zu binden. Denen ist die Zukunft unserer Kinder egal, die wollen nur in den nächsten Jahren gute Quartalsabschlüsse und sobald eine „produktivere“ Lösungen vorhanden sind, werden die Arbeitskräfte entsorgt.

Entsprechende Lösungen wie die Besteuerung von Maschinenarbeit oder bedingungslose Grundeinkommen sind im Moment auf einer politischen Agenda mit Umsetzungspotential überhaupt nicht sichtbar. Wer will auch schon die Wirtschaft beeinträchtigen!? Da schicken wir unsere Kinder lieber in den Computerkurs. Irgendwie auch eine Art Kanonenfutter.

Danke fürs Lesen!

Peace – euer Christian

P.S: Ich habe über das Thema übrigens schon einmal vor einigen Jahren geschrieben. Der Text findet sich hier.

 

 

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Das Rezept für Veränderung

Es wird Zeit, dass sich etwas ändert. Dieser Satz wurde wahrscheinlich schon zu allen Zeiten und von jedweder politischen Couleur vorgebracht. Trotzdem sind tatsächliche Änderungen, man könnte sie auch Revolutionen nennen, eher selten. Obwohl der Wunsch so häufig präsent ist, gelingt es den wenigsten Initiativen, echte Änderungen anzustoßen. Wieso eigentlich? Was ist das Rezept für Veränderung? Wie funktioniert sie?

Ich begebe mich heute beim Schreiben des Artikels auf ziemlich dünnes Eis. Nicht zuletzt, weil einige Thesen dazu einladen, falsch (als Populismus) verstanden zu werden. Trotzdem will ich den Versuch wagen. Wie mittlerweile viele meiner Leser wissen, bin ich seit einiger Zeit bei #aufstehen aktiv. Die Bewegung wird auch in diesem Text eine wichtige Rolle spielen, aber es ist mir wichtig, dass ich das hier nicht als #aufstehen-Aktivist schreibe. Ich bin sogar sicher, dass es nicht wenige Menschen bei #aufstehen gibt, die meine Ansichten überhaupt nicht teilen. Auch das finde ich gut. #aufstehen ist nicht zentral gleichgeschaltet und hält unterschiedliche Meinungen aus.

Schauen wir uns also an, wie Veränderung funktioniert. Am besten auf einer ganz persönlichen Basis, nämlich für einen einzelnen Menschen. Was muss passieren, bevor jemand sein Verhalten ändert?

Eine Verhaltensänderung bedarf einiger Voraussetzungen bzw. das richtige Verhältnis der einzelnen Parameter zueinander. Eine wichtige Rolle spielt dabei der Leidensdruck, der Krankheitsgewinn sowie das Know-How, wie eine Änderung aussehen könnte bzw. wie diese zu bewerkstelligen ist.

Nehmen wir als Beispiel das Rauchen. Hier wäre z.B. der Leidensdruck, die Angst um die eigene Gesundheit oder auch die Kosten. Der Krankheitsgewinn ist in diesem Kontext die beruhigende Wirkung des Rauchens, das Gefühl der Geselligkeit oder Lässigkeit und vielleicht auch eine entsprechende Gruppenzugehörigkeit, etc. Das Änderungswissen könnte z.B. das Wissen um eine entsprechende Entzugsmethode sein oder auch die Erkenntnis, dass man schon erfolgreich einen „kalten“ Entzug geschafft hat. Das Änderungswissen kann jedoch nur wirksam werden, wenn der Leidensdruck deutlich größer als der Krankheitsgewinn ist. Es hilft z.B. überhaupt nichts, eine völlig problemlose und einfache Methode zur Entwöhnung zu kennen (falls es so etwas gibt), wenn der Krankheitsgewinn den Leidensdruck übersteigt. Dies ist gerade bei Rauchern oft der Fall, da eine abstrakte gesundheitliche Gefahr, die irgendwann in der Zukunft eintreten kann, im Vergleich zu dem sofortigen Lustgewinn des Rauchens einfach nicht überwiegt. Hierzu ist die Fähigkeit zum Belohnungsaufschub wichtig, der bei Menschen unterschiedlich stark ausgeprägt ist (aber auch lernbar ist – hier setzt häufig Therapie an). Wird jetzt z.B. eine beginnende Krebserkrankung diagnostiziert, kehrt sich bei vielen Menschen das Verhältnis sofort um, und es wird unmittelbar mit dem Rauchen aufgehört. Leider jedoch oft zu spät.  In die schöne und kurze Sprache der Mathematik verpackt würde es wohl ungefähr so aussehen:

Die Signum-Funktion „Sig()“ sorgt in diesem Fall dafür, dass nur bei überwiegenden Leidensdruck das Änderungswissen wirksam werden kann (und es sieht natürlich auch viel wissenschaftlicher aus!).

Das Schöne an diesem Konzept ist, dass es sowohl bei einzelnen Individuen als auch bei größeren Gruppen, ja sogar bei ganzen Gesellschaften funktioniert. Es findet sogar auch bei der Beurteilung von Märkten in Volkswirtschaften – etwas modifiziert – seine Anwendung.

Wenn wir also Veränderung in unserer Gesellschaft wollen, wie können wir diese Erkenntnis nutzen? Schauen wir dazu kurz in unsere eigene nationale Geschichte.

Die letzte gesellschaftliche Revolution in der Bundesrepublik war Ende der sechziger Jahre zu beobachten. Ich nehme hier bewusst nicht die deutsche Wiedervereinigung als Beispiel, weil es in diesem Fall einige Besonderheiten gab, die den typischen Prozess etwas verdeckten.

Das Erbe der 68er – mittlerweile 50 Jahre her – war der Aufbruch in eine aufgeklärtere, offenere und freiere Gesellschaft. Diese Entwicklung war zunächst getrieben von intellektuellen Debatten eng umrissener Eliten (Studenten, Journalisten, etc.) und wirkte doch am Ende über einen einzigen Schlüsselbegriff: Freiheit. Dieser Schlüsselbegriff wurde von einer breiten Bevölkerungsschicht adaptiert und mit einem persönlichen Freiheitsbegriff gefüllt. Es gab plötzliche die sexuelle Selbstbestimmung, Emanzipation, das Erstarken der Gewerkschaften, Abkehr von den Zwängen der Religion (Kirchensterben) und vieles mehr. Es dauerte mehrere Dekaden, bis wir – irgendwann in den späten 80er Jahren – tatsächlich eine modernere, freiheitliche und liberale Gesellschaft etabliert hatten. Auch damals lag ein Geheimnis des Wechsels in der Zahl. Es war eine breite Allianz, quer durch alle Gesellschaftsschichten. Trotzdem war die Gegenwehr eines relativ kleinen Establishments aus Wirtschaft und Politik erbittert und zäh.

Irgendwann in den neunziger Jahren begann sich das Blatt zu drehen. Auch hier ging es wieder um Freiheit, jedoch geht es beim Neoliberalismus um die Freiheit der Konzerne, nicht die der Bürger.

Der Wunsch nach Freiheit war in den Sechzigern und Siebzigern die treibende Kraft. Auch heute ist Freiheit sicherlich eine wichtige Größe, aber ich denke, dass andere Faktoren heute mindestens genauso bestimmend, wenn nicht entscheidend sind.

Ganz vorne steht das Bedürfnis nach Selbstwirksamkeit, d.h. meine Handlungen machen einen Unterschied und ich habe mein Leben (weitgehend) selbst unter Kontrolle. Diese fehlende Selbstwirksamkeit ist es, die zu geringen Wahlbeteiligungen bzw. Politikverdruss führt. Es ist egal was ich wähle, es kommt sowieso immer das Gleiche heraus. Man kann den Effekt gut bei sogenannten „Schicksalswahlen“ sehen, wo es um ganz konkrete, kurzfristig eintretende Wirkungen geht, z.B. die Landtagswahl im Saarland, die gleichzeitig auch Lafontaine implizit zum Kanzlerkandidaten der SPD machte, oder die aktuelle Landtagswahl in Bayern, bei der es darum ging, „die AfD zu verhindern“. Es gab immer eine deutliche höhere Wahlbeteiligung, wenn ein direktes, kurzfristiges emotionales Ziel verknüpft war.

Auf der anderen Seite steht der Wunsch nach Sicherheit, und damit eng verknüpft ist das Maß an Vertrauen, dass ich an einen gewählten Anführer habe. Eine Größe, die man heute eher mit dem Mikroskop messen muss.

Wie wir aus dem oben erklärten Mechanismus eines Änderungsprozesses gesehen haben, sind diese Wünsche, in der Formel „Leidensdruck“ genannt, relativ abstrakter Natur. Es ist zunächst nichts, was man in einer parteipolitischen Debatte oder einem Parteiprogramm finden würde. Selbstverständlich muss man ab einem bestimmten Zeitpunkt überlegen, wie man solch ein abstraktes Ziel realisieren kann, aber zunächst wird das Handeln der Menschen von einem Teil ihres Gehirns bestimmt, der weder Ratio noch Sprache kennt. Revolutionen beginnen im Herz, nicht im Kopf. Ein rein intellektueller Ansatz wird immer zum Scheitern verurteilt sein. Das zeigt zum Beispiel auch die Volkswirtschaftslehre. Deren Thesen und Konzepte beruhen im Wesentlichen auf einem Homo oeconomicus, einem Nutzenmaximierer, der zutiefst logisch und rational handelt. Wie sich jedoch im Laufe der Jahre gezeigt hat, gibt es diesen Menschen nicht, und sehr häufig sind deshalb die Prognosemodelle einfach falsch.

Alle höheren Funktionen unserer Wahrnehmung dienen im Prinzip nur dazu, den Entscheidungen, die aus der Tiefe unseres Gehirns kommen, die Erklärung zu geben, die wir für das unverzichtbare Gefühl der Selbstwirksamkeit und Erkenntnis brauchen.

Es ist also wesentlich, die Emotionen eines Menschen zu erreichen, wenn man Veränderung will. Unglücklicherweise liegt hier (paradoxerweise) genau die Schwäche der „Linken“ und die Stärke der „Rechten“. Die Linken sollten begreifen, dass die Rezepte zur Veränderung aus den 68igern heute nicht mehr funktionieren. Es hat einfach keine Intellektualisierung der Gesellschaft stattgefunden, die die bisherigen Konzepte und Ansätze aber benötigen würden. Das Ergebnis sind endlose, ideologische Statements – immer mit einem Hauch vom Kantschen Imperativ – die man z.B. bei facebook dadurch erkennt, dass man sie minutenlang scrollen muss, um sie ganz zu lesen. Wir könnten jetzt die geringe Aufmerksamkeitsspanne oder das mangelnde Interesse beklagen. Es ändert aber die Realitäten nicht! Wer Veränderung will, muss die Menschen da abholen, wo sie sind – nicht wo wir sie gerne hätten. Diese Erkenntnis hat nichts mit Arroganz oder Snobismus zu tun. Es ist schlicht die Anerkennung der Lebensumstände der meisten Menschen. Eine Krankenschwester würde ein langes Parteiprogramm genauso verstehen – wahrscheinlich noch besser als Herr Spahn, da sie die Lebensrealitäten hinter den Themen aus eigener Erfahrung kennt – wie ein promovierter Politikwissenschaftler oder Journalist. Es ist nur unrealistisch und auch unfair anzunehmen, dass sie nach einem harten Arbeitstag, im Schichtdienst und am Wochenende für einen Hungerlohn dafür noch die Energie hat.

Die bisherigen „Aktivisten“ sind mehrheitlich „politische“ Menschen, mit denen die neuen Mitglieder von #aufstehen, die oft zum ersten Mal wirklich politisiert sind, häufig fremdeln. Ich bin aber guter Hoffnung, dass die Polit-Novizen bald in der Mehrzahl sein werden. Die Gründungsversammlung von #aufstehen Rheinland-Pfalz war dafür ein gutes Beispiel. Das Treffen wurde zwar von der „Zentrale“ angeregt, Inhaltlich wurde es aber vollkommen frei von den Interessenten bestimmt. Es waren nur wenige in Parteien organisierte Menschen gekommen und selbst diese traten ausdrücklich als Bürger und nicht als Parteisoldaten an. Damit es so bleibt, sollte #aufstehen es als Verpflichtung ansehen, sich auf die Bedürfnisse dieser neuen Mitglieder einzustellen und nicht unausgesprochen fordern, dass sie 30 Jahre (oder mehr) Auseinandersetzung mit parteilicher Programmpolitik in Rekordzeit nachholen, bevor sie ernst genommen werden. Am Ende sind sie – die Politikneulinge – es nämlich, die die Veränderung ermöglichen. Nicht diejenigen, die sich für eine Art Elite halten, weil sie seit 1972 ein Spiegel-Abo haben, regelmäßig an Demos teilnehmen und eine Art Paternalismus für die politisch Unerfahrenen für geboten halten.

Mit Politsprech kann man die Menschen nicht erreichen. So wäre z.B. #aufstehen gut beraten – auch um sich von den üblichen Politikbetrieb abzugrenzen – ein eigenes Vokabular zu benutzen. Soziale Gerechtigkeit ist ein politischer Kampfbegriff. Beim Grillen mit (unpolitischen) Freunden oder in der Kneipe wäre aber wahrscheinlich eher von Fairness die Rede. Lasst uns Alltagssprache verwenden – keine Politikparolen.

Unglücklicherweise scheint es nur die AfD zu sein, die das Konzept von der emotionalen Erreichbarkeit der Bürger als einzige verinnerlicht hat. Die AfD diese Mechanismen längst erkannt und agiert wesentlich geschickter als die etablierten Parteien.

Ein gutes Beispiel auf der anderen Seite war die #unteilbar Demo in Berlin. Rund 250.000 Menschen versammelten sich hinter einem relativ unscharfen Motto. Es war so unscharf, dass sogar Feministinnen neben konservativen Anhängern des Islam laufen konnten. Es war außerdem ein Motto, das eigentlich niemand ablehnen oder schlecht finden kann. Leise Kritik, an den dahinter stehenden Forderungen, z.B. offene Grenzen für Alle, wurde sofort von einer breiten Öffentlichkeit abgestraft. Dank des guten Wetters war es am Ende mehr ein Volksfest als Demo und jeder konnte guten Gewissens seine eigene Idee von #unteilbar feiern. Ich bin mir aber ziemlich sicher, dass es bei Diskussionen der politischen Details einer möglichen Umsetzung zwischen den Teilnehmern relativ schnell zu klaren Differenzen gekommen wäre.

Es gibt mehr zu gewinnen (und zu verlieren) als den Kampf gegen Rechts. Die politische Linke hat aber bereits begonnen, sich selbst zu zerfleischen. Was bringen gemeinsame Demos von CDU, SPD, Gewerkschaften, Linken, AntiFa, etc. gegen Rechts wenn am Ende doch Merkel (oder ein anderer Fürsprecher des Neoliberalismus) auf dem Kanzlerstuhl bleibt? Außerdem hat dies bisher auch den Aufstieg der Rechten nicht verhindert und ich halte es für schlicht unlogisch, dass mehr Kampf das Problem löst. Nicht bei einem Anteil der AfD Sympathisanten in Deutschland, der im Schnitt irgendwo zwischen 20 und 30% liegen dürfte. Gerade in diesem Moment sehe ich die AfD bei der Landtagswahl in Bayern bei 11% in der ersten Hochrechnung. Sie ist damit stärker als die SPD und hat aus dem Stand 11% erreicht und hat damit weit mehr Zugewinne als alle anderen Parteien, außer den Grünen, die wahrscheinlich einfach Gewinner ihrer Nicht-Fisch-Nicht-Fleisch Politik geworden sind.

Mein Mangel an Kampfeswille gegen Rechts hat aber nichts mit Appeasement zu tun. Angriffen auf Rechtsstaat und Verfassung muss deutlich entgegen getreten werden. Ich will aber keinen „Bürgerkrieg“ in Deutschland, während sich Politik und Wirtschaft auf die Schenkel klopfen, weil wir sie im Kampfgetümmel wieder aus den Augen verloren haben.

Dem Establishment, sowohl in der Politik als auch in der Wirtschaft, ist die Gefährlichkeit von #aufstehen wohl bewusst – deswegen gibt es eben von diesen Seiten auch so wenig Zustimmung bzw. so viel Gegenwehr, Abwertung und Verleumdung.

Die häufigste Abwertung besteht darin, dass #aufstehen im Moment eher eine Art Mailingliste ist und verkennt dramatisch (oder verschweigt bewusst), wie wichtig ein solches Medium ist. In der Wirtschaft werden nicht umsonst riesige Summen von einer ganzen Industrie verlangt, die Firmen schlicht dies zur Verfügung stellt. Auch das Thema Big Data– eine ziemlich ausgefuchste Form von Datensammeln – dient letztlich nur einem Zweck: die Entscheidungen von Menschen zu beeinflussen – durch bessere Erreichbarkeit mit der jeweiligen „Nachricht“. Der Eintrag in einen Newsletter von #aufstehen von großen Teilen der Bevölkerung ist weit mehr aktive Beteiligung, als die etablierten Parteien verbuchen können. Es macht #aufstehen weiterhin unabhängig von externen Beurteilungen, z.B. durch andere Parteien via Presse. #aufstehen kann mit Nachrichten schnell, billig und einfach die Massen adressieren. Man muss aber auch dafür sorgen, dass die Nachrichten so formuliert sind, dass sie die Herzen der Empfänger erreichen.

Wenn dies gelingt, stellt #aufstehen genau den Faktor dar, der bei unserer Formel für Änderung bisher noch nicht abgedeckt war: das Änderungswissen, d.h. das Know-How, wie man entsprechende Veränderungen in der Praxis durchführen kann.

Und jetzt hätten wir bei unserer Formel alle Spieler auf dem Platz.

Den Leidensdruck – der ohne Zweifel in der Breite der Bevölkerung vorhanden ist – erreichen wir durch eine lebensnahe, emotionale Adressierung, und nicht durch endlose Parteiprogramme oder intellektuelle Arbeitskreise. Am besten auch durch Gesichter, die noch nicht in der Politik verbraucht sind. Menschen, die über Erfahrungen aus der realen Welt verfügen, im Leben auch schon Niederlagen einstecken mussten, und wissen, was es heißt, heute eine Familie mit Erwerbsarbeit durchzubringen. Das Ganze kann durch das Entstehen von #aufstehen entsprechend kanalisiert werden und liefert die notwendige Infrastruktur für weitreichende, konsensgetriebene Veränderung. Bliebe noch der „Krankheitsgewinn“. Genau an dieser Schraube dreht im Moment das wirtschaftliche und politische Establishment, diesmal in Form von negativer Verstärkung. Es könnte schon fast ein Beispiel aus der Konditionierungstheorie sein. Wehe, wenn ihr etwas ändert, dann verliert ihr euren Job, die Rechten übernehmen die Macht, … hier beliebige Angst einsetzen.

Was wäre also mein Rat an #aufstehen? Bleibt so lange wie möglich eine Bürgerbewegung und wachst so schnell ihr könnt! Es ist kein Fehler, auch Arbeitskreise zu haben, die sich mit politischen Detaillösungen beschäftigen, aber im Moment ist das noch nicht zwingend notwendig. #aufstehen muss wachsen und dafür reicht es, wenn wir uns auf die Emotionen der Menschen konzentrieren. Die Gründungserklärung ist die Basis, mit der bisher alle „Aufständischen“ einverstanden waren. Diese Inhalte transportiert man aber nicht über im Detail ausgearbeitete Programme in die breite Bevölkerung. Ich gehe davon aus, dass für die meisten Menschen in Deutschland der Gründungsaufruf von #aufstehen schon genug Infos enthält, um eine Entscheidung zu treffen. Wohlgemerkt, ich rede hier nicht von den „Aktivisten“, die ihr ganzes Leben schon politisch stark engagiert waren. Wenn wir einen echten Wandel wollen, brauchen wir im wesentlichen „Karl Mustermann“ und seine Frau und Kinder – den durchschnittlichen (im besten Sinne) Deutschen. Natürlich ist es sinnvoll, die Programme im Detail auszuarbeiten, um im Ernstfall wirklich handlungsfähig zu sein. Mit dem Wandel an sich haben diese Programme aber nichts zu tun. Geht lieber so schnell wie möglich mit den Ideen der Gründungserklärung auf die Straße, um damit Mitstreiter zu werben.

Für viele der älteren „Aufständischen“ ist die starke Konzentration auf digitale Medien bei #aufstehen sicherlich schwierig zu akzeptieren. Einerseits einer der N°1 Jobkiller, sollen hier plötzlich die gleichen Instrumente genutzt werden. Das ist verständlich, aber es ist letztendlich die Frage, was mit dem Werkzeug gemacht wird. Mit einem Hammer kann ich ein Haus bauen oder einen Kopf einschlagen. Ein Wesenszug der Linken war von jeher die Aufgeschlossenheit gegenüber Neuem. Das sollte man sich  zunutze machen. #aufstehen hat – wie es auf Neudeutsch so schön heißt – Momentum. Jetzt muss man dran bleiben! Das Internet wird dabei für #aufstehen eine zentrale Rolle spielen. Die ersten hochgeladenen Videos zeigten schon den richtigen Weg. Influencer– nicht (nur) aus der Politik – erreichen andere Bürger mit emotionalen, persönlichen Stellungnahmen. Besonders in der frühen Phase, in der sich #aufstehen jetzt befindet, ist die Verletzlichkeit gegen Entwicklungen von Innen am größten. #aufstehen darf kein Intellektuellenclub der „üblichen Verdächtigen“ werden. Keine endlosen, selbstzerfleischenden Grundsatzdiskussionen, kein Politikgeschwurbel oder seitenlange Statements. Kein Hoffen auf „Verbündete“ aus anderen Parteien oder Interessengruppen. Es gibt einen Grund, warum die meisten neuen Aufständischen bisher in keiner Partei oder anderen Interessengruppe aktiv waren.

Ich bin sicher, viele Leser werden jetzt skeptisch oder angewidert denken, dass ich nur inhaltsloses Marketing propagiere. So ganz falsch ist das nicht. Man kann entweder für einen reale oder einen perfekte Welt Politik machen. Im zweiten Fall wird man allerdings in der realen Welt einen – wenn auch moralisch einwandfreien – Politiktod sterben. Ich bin sicher, wir benötigen modernstes Marketing um gegen den „Krankheitsgewinn“ – um bei unserer Formel zu bleiben – bestehen zu können. Die andere Seite wird sich nämlich sicher nicht selbst zensieren und darauf verzichten. Ich würde es aber nicht als inhaltsleer bezeichnen, sondern vielmehr als ein Skelett, auf dem die Bewegung dann Schritt für Schritt aufbaut – z.B. wenn sich die ersten „Aufständischen“ als freie Direktkandidaten bei Wahlen stellen. Auf diese Weise muss #aufstehen noch nicht mal eine Partei werden und kann trotzdem Politik aktiv beeinflussen.

Die Menschen sind bereit für einen Wechsel. Lasst uns ihnen jetzt den Rahmen dafür geben. Laden wir sie zu #aufstehen ein. Es wird kein leichter Marsch und die Gegenwehr wird hoch sein. Trotzdem bin ich dieses eine Mal zuversichtlich. Es ist egal, wie oft und konsequent man die Triebe zurück schneidet. Man kann den Frühling nicht verhindern, wenn seine Zeit gekommen ist.

Danke fürs Lesen.

Euer Christian

#keinPolitiker

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Trägt Justitia eine Augenbinde oder ein Brett vorm Kopf?

Von Maarten van Heemskerck, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=11975108

Jeder hat das Bild der Göttin Justitia mit ihren verbunden Augen und der Waage schon gesehen. Sie gilt gemeinhin als Symbol für „Gerechtigkeit“ und die Augenbinde soll unterstreichen, dass sie gerecht – ohne Ansehen der Person, um die es geht – für jedermann gleich entscheidet. Im Gegensatz dazu kann man auch mit einem Brett vorm Kopf blind sein, nur dass sich diese Version hauptsächlich dadurch auszeichnet, dass man auf seinem Standpunkt (oder Gesetzen) beharrt, obwohl gute Gründe dafür bestehen, dies nicht zu tun.

Um eine Antwort auf die Frage zu erhalten, ob es sich bei Justitia um eine Augenbinde oder ein Brett handelt, könnten wir uns Fälle aus der aktuellen Rechtsprechung ansehen. Dass ich selbst kein Jurist bin, würde ich in diesem Fall nicht als Nachteil ansehen. Eher als Benchmark- Test, inwieweit ein Durchschnittsbürger die Frage nach Brett oder Augenbinde wohl beantworten würde. Das Beispiel (Artikel des Deutschlandfunks im Link), das ich mir ausgesucht habe, ist der Fall der aus Syrien geflüchteten A. (geboren am 01.01.2001), die zusammen mit ihrem Ehemann (und Cousin) H. (geboren am 01.01.1994) im Spätsommer 2015 in Deutschland ankam. Wenn wir mal den (merkwürdigen) Zufall beiseite lassen, dass beide am gleichen Tag Geburtstag haben (ist das wirklich das Geburtsdatum/Jahr?), stellen wir einen gewissen Altersunterschied fest – was erst einmal nichts schlimmes wäre. Tatsächlich war die kleine A. am Tag ihrer Eheschließung aber erst 14 Jahre alt. Es handelt sich also um eine sogenannte Kinderehe.

Hier in Deutschland gab es dann natürlich Probleme, da eine Ehe in diesem Alter nach deutschem Recht nicht möglich ist – schon gar nicht, wenn der Ehemann bereits volljährig ist. Tatsächlich griff das Jugendamt ein und nahm A. in Obhut und ein Vormund wurde bestellt.

Und dann kam Justitia auf Touren. Um es kurz zu machen: das OLG Bamberg sprach im Beschluss vom 12.05.2016 unter dem Zeichen 2 UF 58/16 f folgendes Urteil (kompletter Text im Link):

  1. Dem einem minderjährigen Verheirateten bestellten Vormund kommt wegen §§ 1800, 1633 BGB keine Entscheidungsbefugnis für den Aufenthalt des Mündels zu. Dies gilt auch hinsichtlich wirksam verheirateter minderjähriger Flüchtlinge, wenn nach dem Recht des Herkunftsstaates insoweit ebenfalls keine elterliche Sorge besteht (Art. 15, 16, 20 KSÜ). (amtlicher Leitsatz)

 

  1. Eine in Syrien nach syrischem Eheschließungsrecht wirksam geschlossene Ehe einer zum Eheschließungszeitpunkt 14-Jährigen mit einem Volljährigen ist als wirksam anzuerkennen, wenn die Ehegatten der sunnitischen Glaubensrichtung angehören und die Ehe bereits vollzogen ist. (amtlicher Leitsatz)

 

  1. Die Unterschreitung des Ehemündigkeitsalters des § 1303 BGB bei einer Eheschließung im Ausland führt selbst bei Unterstellung eines Verstoßes gegen den ordre public (Art. 6 EGBGB) nicht zur Nichtigkeit der Ehe, wenn nach dem für die Eheschließung gem. Art. 11, 13 EGBGB anzuwendenden ausländischen Recht die Ehe bei Unterschreitung des dort geregelten Ehemündigkeitsalters nicht unwirksam, sondern nur anfechtbar oder aufhebbar wäre. (amtlicher Leitsatz)

Wem das Ganze etwas zur verschwurbelt ist, hier eine kurze Zusammenfassung:

  1. Es gibt keinen Vormund/Beistand/Schutz des Jugendamtes für die minderjährige Ehefrau.
  2. Da es in Syrien legal ist, eine 14-jährige zu heiraten und mit ihr Sex zu haben, ist es auch hier legal.
  3. Selbst wenn es in Syrien nicht legal wäre, bliebe es hier so lange legal, bis die Ehe in Syrien annulliert würde.

Und spätestens hier bin ich sehr skeptisch, ob die Augenbinde nicht vielleicht doch ein Brett ist!

Schauen wir uns die Folgen einmal genauer an. In der Urteilsbegründung wird von einer realen Liebesbeziehung zwischen den Ehepartnern ausgegangen. Es wird keinerlei Zwang vermutet. Das Jugendamt sah allerdings bei A. ein „noch eher kindliches bis jugendliches Verhalten und füge sich im Ergebnis den Erwartungen ihrer Familie und des Beteiligten H. (der Ehemann)“. Außerdem wurde befürchtet, dass A. schnell schwanger werden könnte, da Sex ohne wirksame Verhütung praktiziert werde. Ausgehebelt wurde das Ganze von einem Verfahrensbeistand. Leider gibt das Urteil keinen Aufschluss über den Beistand, aber es handelt sich in den meisten Fällen um Juristen. Die bestellte Verfahrensbeiständin (eine Frau!) sah aber in der Betreuung des Jugendamts und den stattfindenden beaufsichtigten Treffen der Ehepartner im Wesentlichen ein Integrationshindernis. Ob es der Vorgang war, der die Dame so mitgenommen hat oder nicht – im weiteren Prozess konnte die Dame aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr auftreten. Es wurde eine Kollegin verpflichtet – wieder eine Frau. Auch sie teilte die Auffassung, dass es keinerlei Druck gab bzw. gegeben hätte und im übrigen die Ehe in Syrien völlig „normal“ wäre. Das Jugendamt blieb bei seiner gegenteiligen Auffassung. Am Ende zog Ehemann H. – mittlerweile 21 mit seiner Gattin A. (15 Jahre) als anerkanntes Ehepaar von dannen. Über das weitere Schicksal von A. ist mir bisher nichts bekannt.

Die Richter entschieden tatsächlich – soweit ich das beurteilen kann – auf der Basis gültiger Gesetze.

Was bedeutet das für uns? Zunächst erlauben wir dadurch ganz offiziell, dass ausländische Regelungen unsere Gesetze aushebeln dürfen. Wir erlauben also ausländischen Staatsbürgern, in Deutschland Gesetze zu ignorieren, an die wir uns alle halten müssen. Wenn es also, z.B. nach bestimmten religiösen oder kulturellen Gegebenheiten irgendwo möglich ist, dass eine 12-jährige einen 52-jährigen heiratet (was es tatsächlich gibt) und die beiden sich entschließen nach Deutschland zu kommen, ist das kein Problem. Die nächste Frage ist, gilt das dann auch für andere Kontexte? Wenn anderswo das Schlagen der Ehefrau erlaubt ist, gilt das dann hier auch? Gibt es überhaupt einen Kinder- bzw. Jugendschutz für ausländische Kinder in Paarbeziehungen?

Außerdem, wie erklären wir den Bürgern, dass es jetzt plötzlich 2 Klassen von Menschen in Deutschland gibt? Diejenigen, die unter dem Schutz bzw. Aufsicht der Gesetze stehen und die, für die das nicht gilt?

Wie können wir im Ernst annehmen, die Verheiratung einer 14-jährigen erfolgt aus dem reinen und erwachsenen Willen der Braut – egal in welcher Kultur? Wo sind denn eigentlich jetzt die Aufschreie der ganzen Feministinnen oder Feministen? Reicht es, wenn im Urteilstext korrekt gegendert wird? Reicht unsere Empörung über sexuelle Belästigung, um ein Gedicht von einer Hauswand löschen zu lassen, weil der Begriff „Frau“ darin vorkommt, aber nicht, um ein real existierendes Mädchen von 15 Jahren zu schützen?

https://www.girlsglobe.org/2013/04/15/child-marriage-a-global-issue/

Um es gleich zu sagen: das ist kein „Einzelfall“. Die WHO geht von 39.000 Kinderehen pro Tag aus. Wir MÜSSEN uns zu diesem Thema eine Meinung bilden, sofern wir nicht die Grenzen schließen wollen. Mehr als 1/3 aller Mädchen in den Entwicklungsländern werden als Kinder verheiratet.

Das Possenspiel mag zwar nach den gültigen Gesetzen verhandelt worden sein, aber das hat nichts mehr mit Augenbinde zu tun. Ich glaub auch nicht, dass ein Brett ausreicht, um auf eine solche Sichtweise zu kommen. Möglicherweise wurde ja Holz aus dem Hambacher Wald verwendet.

Danke für’s Lesen.

Euer Christian

#keinPolitiker

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Das Deutschland der Sitzenbleiber

Ich geb’s zu. Der aktuelle Plot – man könnte auch Realität dazu sagen – ist komplett unglaubwürdig. Sämtliche Zeitreisende, die zufällig in diesen Jahren stranden, werden total verwirrt sein. Genauso geht es auch Menschen, die noch mit den alten Rollenbildern aus der Politik aufgewachsen sind. Irgendwie macht das alles so keinen Sinn.

Darüber, dass man unverhofft „Nazi“ oder „Zecke“ werden kann, hatte ich ja in der Vergangenheit bereits öfter geschrieben. Aber auch abseits von Einzelschicksalen ist die politische Landschaft in Deutschland eigentlich mehr Satire als Realität. Am besten sieht man das zur Zeit beim Thema #Aufstehen, also der neuen „Bewegung“, die versucht, Menschen einzusammeln um etwas Neues in Deutschland zu gestalten. Trotz des respektablen Erfolgs schon von Anfang an so viele Interessierte hinter sich zu bringen – bisher ist es ja kaum mehr als ein Registrieren – gibt es quasi von allen Seiten Haue. Man könnte fast meinen, man macht gerade das nächste Feindbild nach den Nazis klar, wenn Rechts keinen mehr aufregt.

Was ist an #Aufstehen denn eigentlich so grauenhaft? Ich habe mir die häufigsten Kritikpunkte angesehen.

#Aufstehen ist keine „Bewegung“, sondern wird von Politikern organisiert.

Na das ist (war) ja nun wirklich kein Geheimnis, dass das Ganze nicht spontan entstanden ist, sondern von Politikern und anderen gegründet wurde, um Menschen, die nicht in Parteien organisiert sind (und das vielleicht auch nicht wollen) eine Möglichkeit zum Mitmachen zu geben. Klar, es wäre schöner gewesen, wenn man sich als Graswurzelbewegung irgendwie selbst aus der Bürgerschaft gegründet hätte, aber da war ja nichts wirklich in Sicht, das in so kurzer Zeit einen nennenswerten Einstand hätte schaffen können. Durch die vielen Interessenten kann man deshalb auch hoffen, dass es tatsächlich eine Bewegung der Bürger wird – auch Retortenkinder sind Kinder und können wachsen. Und überhaupt: #Aufstehen ist immer noch deutlich mehr „Bewegung“ als alle politischen Parteien in Deutschland, die das so gern monieren.

#Aufstehen ist ja nur ein Wahlverein für Wagenknecht und Lafontaine

Ohne respektlos sein zu wollen: Lafontaine ist 75 und die Zeit, in der er noch aktiv Politik machen wird (kann), ist sicherlich übersehbar. Schon jetzt findet man ihn, abseits der Schlagzeilen zu #Aufstehen, kaum noch in den Überschriften der Medien – außer im Saarland vielleicht. Das sieht bei Wagenknecht schon ganz anders aus. Ehrlich gesagt hoffe ich sogar, dass sie innerhalb von #Aufstehen die Gestaltungsfreiheit bekommt, die ihr bei den LINKEN verwehrt wird. Eigentlich ist sie auch keine schlechte Gallionsfigur: Frau, Tochter eines Iraners und einer alleinerziehenden deutschen Mutter, Studium in der DDR verweigert wegen fehlender Linientreue, nach der Wende dann Studium und schließlich Promotion. Da schlagen mehrere Quoten gleich voll durch. Wer da skeptisch ist, kann gerne mal die Biografien Wagenknecht – Merkel vergleichen. Nicht sehr schmeichelhaft für Mutti. Ob aus #Aufstehen mal eine Partei werden soll? Na wenn es gut läuft, warum nicht? Was würde dagegen sprechen, wenn sich eine „Bewegung“ so viel Unterstützung sichern kann, dass sie bei Wahlen eine echte Chance hätte? War das nicht bei den anderen Parteien auch mal so?

#Aufstehen zersplittert die Linken in Deutschland

Gute Frage. Wer genau ist denn im Moment „Links“ in Deutschland? Die SPD oder die Grünen? Oder nur die LINKE? Also was SPD und auch die Grünen angeht, koalieren die doch in den letzten Legislaturperioden eh lieber bevorzugt mit rechts aka CDU/CSU. Dass die SPD und die LINKE seit mehr als einer Dekade sowieso nicht wirklich miteinander reden, ist sicherlich nicht Wagenknechts schuld. Echte Sozialpolitik ist auf jeden Fall weder bei der SPD (trotz langer Regierungsbeteiligung) noch bei den Grünen wirklich zu finden. Was die Linke angeht, finde ich es eher traurig, dass man noch nicht mal innerhalb der Partei auf Mobbing verzichten kann. Zersplittert wäre die Linke in Deutschland ganz sicher auch ohne #Aufstehen. Deshalb ist das Angebot von #Aufstehen auch so richtig: Egal aus welcher Partei ihr kommt: macht mit.

#Aufstehen ist ja cool, aber Wagenknecht ist ja extrem rechts/links/Stasi/Egozentrisch/Alien oder was weiß ich.

Also in den Kopf schauen kann ich keinem, aber zumindest Alien würde ich ausschließen. Was den Rest angeht: Wagenknecht hat in 2016 ein Buch veröffentlicht, dass alle wesentlichen Ideen und Konzepte enthält, die sie gerne umsetzen würde. Ich hab das Buch aufmerksam gelesen und kann nur sagen: Chapeau! Mal was ganz anderes als das Phrasengedresche der anderen Politheinis. Egal wo dann „die anderen“ ihre Ideen zwischen rechts und links so einsortieren, ich bin in den meisten Punkten der gleichen Meinung. Klar, keine Ahnung was passiert, wenn sie wirklich die Macht hätte etwas umzusetzen, aber das Problem haben wir doch immer. Bei den „alten“ Parteien hat sich jedenfalls schon gezeigt, dass zwischen Wahlversprechen, Parteiprogramm, gesundem Menschenverstand und Ethik keinerlei Überschneidung zur realen Politik zu finden sind. Da versuch ich lieber was neues.

Bloß nicht #Aufstehen!?

Das ist für mich das Schrägste an der ganzen Sache. Nicht nur, dass mittlerweile die AntiFa Merkels Positionen verteidigt. Zur Zeit gibt es nur bei 2 Sachen einen echten Konsens im Bundestag: AfD ist Scheiße und #Aufstehen ist Quatsch. Meinen Standpunkt zum Thema Umgang mit der AfD habe ich bereits im letzten Blogbeitrag klar gemacht, aber was ist mit #Aufstehen? Also mich macht das schon mal neugierig, wenn plötzlich solche Einigkeit im Bundestag herrscht. Man könnte meinen, getroffene Hunde bellen. Bei den Parteien im Bundestag geht es zunächst erst mal um Machterhalt und Bewahrung des Status Quo. Vielleicht sollte man die allgemeine Ablehnung der Parteien gegenüber #Aufstehen als Kompliment begreifen? Man merkt in Berlin, dass man mit Floskeln und nix machen langsam keinen mehr blenden kann. Was wenn #Aufstehen wirklich funktioniert? Das wäre ein ganz schöner Gegenwind zur aktuellen Politik der Regierung. Da man #Aufstehen schwerlich als „Nazis“ abstempeln kann – obwohl ich das bei manchen Kommentaren in der Presse durchaus lesen konnte – versucht man es einfach anders: man wertet Wagenknecht ab und redet #Aufstehen klein. Und es funktioniert. Bis jetzt wenigstens.

Mitgliederentwicklung SPD (Wikipedia)

Obwohl es mittlerweile mehr als 100.000 registrierte #Aufsteher gibt, wird das Ganze immer noch als Ego-Veranstaltung Wagenknechts oder destruktiv bezeichnet und scheinbar sind die Deutschen mehrheitlich bereit, das auch zu schlucken. Wenn man sich z.B. die Mitgliederzahlen einer „Volkspartei“ wie der SPD ansieht, stellt man fest, dass mehr als 100.000 Interessierte extrem viel ist. Die SPD hat im Moment noch nicht mal 500.000 Mitglieder, und hat seit Anfang der 2000er Jahre ca. 100.000 Mitglieder verloren. Eigentlich also wirklich eine tolle Basis, um mit #Aufstehen in Deutschland eine Veränderung zu bewirken.

Genau deshalb macht es mich so wütend, dass es noch so viele #Sitzenbleiber statt #Aufsteher gibt. Das ist genau die Chance, die seit Jahren gefehlt hat. Euch gefallen einige Aspekte bei #Aufstehen nicht? Gut, dann macht mit und bringt euch ein. Statt sich sinnlos von der Politik in rechts und links sortieren zu lassen, während Merkel und Co. weiterhin dem ökonomischen Gott des unbegrenzten Wachstums huldigen, den Umweltschutz als Option behandeln und die Lebenswirklichkeit für immer mehr Menschen in Deutschland signifikant verschlechtert, könnte man hier einfach mal #Aufstehen.

Danke für’s Lesen.

Euer Christian

#keinPolitiker

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Bauanleitung für einen Nazi

Normalerweise ist es recht schwierig, eine (fast) ausgestorbene Art wieder in ein bestehendes Biosystem einzugliedern. Es gab ja gute Gründe, warum die Art ehemals am Aussterben war, und der heutige Lebensraum enthält immer weniger Nischen, in denen „seltene“ Arten gedeihen können.

Wieso haben es also die Nazis geschafft, sich innerhalb weniger Jahre nicht nur deutlich zu vermehren, sondern jetzt auch munter dabei sind, ihre Nische zu verlassen und in manchen Gegenden sogar zur dominierenden Art zu werden? Wieso gibt es auf einmal so viele davon? Ich glaube, weil es so einfach ist, welche zu bauen.

Gehen wir das Ganze akademisch an, und überlegen, wie man am besten eine Nazipopulation aufbauen würde. Es gab ja nach dem Krieg erst mal gar keine mehr – die meisten behaupteten sogar, es habe nie welche gegeben. Scheinbar entwickelten einige Exemplare ein perfektes Mimikry und tarnten sich, um in der breiten Masse zu verschwinden. Auf diese Weise konnte sich eine Restpopulation erhalten, die jedoch sehr darauf bedacht war, unerkannt zu bleiben. Man kann zwar drüber streiten, aber nehmen wir einmal an, dass es auch bei den restlichen Nazis eine IQ-Normalverteilung nach der Gaußschen Glockenkurve gab. Es waren also so ca. 2 – 15% schlaue Köpfe (je nachdem, wie man das definiert) dabei. Trotzdem waberten die Nazis eher im Untergrund und diejenigen, die man so sehen konnte, waren offensichtlich nicht Teil der geistigen Elite.

Dann gab es erstmal Wirtschaftsaufschwung (im Westen) und sozialistisches Paradies (im Osten) und bis zum Fall der Mauer waren Nazis eher so ein Schmeißfliegenproblem.

Aber dann ging es los. Als Anfang 1990 die Mauer fiel, war erst mal Goldgräbern angesagt. Es war sozusagen ein Großexperiment mit einem (bzw. zwei) Ländern. Den Menschen im Osten wurden blühende Landschaften versprochen, die im Gegenzug dann auch brav den Versprecher wählten.  Einige schafften den Schnellkurs in Kapitalismus, für viele – wenn nicht die meisten – wurde es aber schnell eng. Diverse VEBs, einst sichere Arbeitsplätze, wurden geschlossen. Alles was irgendwie Wert hatte, schnell verscherbelt und viele Top-Manager aus dem Osten gab es auch nicht. Dafür schaffte es Eine aus dem Osten einige Jahre später ganz an die Spitze, das war es dann aber auch schon fast. Denn noch bevor man sich über tolle renovierte Fassaden und Glasfaserkabel in Leipzig und Co so richtig freuen konnte, kam die Wirtschaftskrise angekrochen. Die erwischte dann auch ganz Deutschland und wir erlebten viele Segnungen der modernen Sozialdemokratie wie Hartz IV, geringfügige Beschäftigungen, (Hunger-) Mindestlohn, weitere Rüstungsexporte, Bankenrettung, etc. Das wäre einen eigenen Blogbeitrag wert, aber das ist ja heute nicht das Thema. Zurück blieb eine Bevölkerung, die im Wesentlichen eins gelernt hatte: die fetten Jahre sind vorbei. Es ging nicht mehr um Wachstum oder Absicherung des Wohlstands. Es ging für die meisten eher darum, möglichst nicht abzurutschen. Und um die Stimmung endgültig zu killen, konnte man gleichzeitig einen beispiellosen Zugewinn bei einzelnen Privatvermögen erkennen. Weil man „den Aktionären“ verpflichtet war, entließ man halt Arbeiter, und die Dividende landete dann bei einer Handvoll Menschen. Dazu gesellte sich das unbestimmte Gefühl, dass man von der Politik prinzipiell verarscht wird. Kaum ein Versprechen wird gehalten, es geht nur noch um den Machterhalt und Probleme wurden schon lange nicht mehr gelöst. Damit waren die wichtigsten Bauteile für einen Nazi schon vorhanden: Angst, im eigenen Leben erhebliche Abstriche – wenn nicht Abstürze – hinnehmen zu müssen und das fehlende Vertrauen in die Menschen, die das Land eigentlich lenken sollten.

Das führte auch dazu, dass es plötzlich Parteien gab, die erkannt hatten, dass es eine große Menge unzufriedener Menschen in Deutschland gab. Am Anfang ungeschickt und schnell als rechte Eingreiftruppe erkennbar, folgte eine Professionalisierung. Klar, so aalglatt, wie die anderen Parteien ist die AfD (noch) nicht, aber das wird schon noch. Es reichte schon, dass man bei der AfD berechtigte Fragen stellte. Keiner merkte, dass die Antworten der AfD darauf scheiße waren. Es war auch egal, denn man wurde als besorgter Bürger endlich einmal gehört. Das gab genug Endorphine, dass man über die Folgen der vorgeschlagenen Antwort gar nicht erst groß nachdachte.

Bis hierhin war die Lage zwar brenzlig, aber beherrschbar. Eine funktionierende Gesellschaft kann ohne weiteres 5% AfD aushalten. Doch dann begann die Entrüstungskampagne, quasi zeitgleich mit dem Flüchtlingsstrom. Das sieht man in der Biologie übrigens häufig, dass Änderungen im Ökosystem plötzlich Nischenarten ins Rampenlicht und an den Anfang der Nahrungskette katapultieren. Wie war das bei uns?

Wenn man mit den Leistungen der Regierung nicht zufrieden war und ähnliche Fragen stellte wie die AfD, wurde man sofort eingemeindet. Dabei hat die Politik wesentlich beigetragen. Jedes Mal, wenn die AfD zu Wort kam, gab es Entrüstung. Alle, die nicht explizit gegen die AfD und deren Fragen waren, wurden zur AfD gerechnet. Ich denke, in der Zeit haben bei der AfD häufig die Sektkorken geknallt. Sie bekamen quasi Sympathisanten zwangsweise zugeteilt. Das führte dazu, dass zwei ziemlich simple und gut erforschte psychologische Effekte anliefen. Da ja immer mehr Menschen plötzlich – wegen ihrer Fragen und Kritik – Nazis bzw. AfD waren, fand man sich in einer immer größer werdenden Gemeinschaft wieder. Dies bewirkte einen „social Proof“, wie es im Marketing so schön heißt. Im Deutschen würde man es „soziale Bewährtheit“ nennen. Es ist eins der mächtigsten Instrumente, wenn man Menschen etwas andrehen will. Deswegen ist ja immer auch ein Fußballstar auf unserem Waschmittel usw. Wenn wir es genauso machen, wie die Leitperson oder eine große Menge anderer, sind wir bei unseren Entscheidungen sicherer. Wenn ich jetzt also irgendwo wohne, vielleicht in Chemnitz, und rund um mich rum werden meine Nachbarn alle Nazi genannt, obwohl die ja eigentlich ganz vernünftige Fragen stellen, habe ich gute Chancen mich davon anstecken zu lassen. Besonders, wenn mir die gleichen Probleme auf den Nägeln brennen. Der zweite Effekt war der „In Group / Outgroup“ Effekt. Auch er ist von enormer Stärke und beeinflusst sogar unbewusst Menschen, die sich eigentlich für schlau halten. Kurz gesagt bedeutet er, wenn ich mit meiner Gruppe auf eine andere (feindliche) Gruppe treffe, verstärkt sich automatisch der Zusammenhalt, man wird unkritischer gegen die eigenen Entscheidungen und lässt gerne mal den Zweck die Mittel heiligen. Nichts lässt eine Gruppe mehr zusammen rücken als das Auftauchen eines Gegners. Läßt sich wunderbar bei den vielen Demos und Gegendemos beobachten. Keine Seite hält sich noch an die Ideale, die man eigentlich vertreten wollte. Hauptsache man hat keinen Fußbreit nachgelassen. Glückliches Schulterklopfen auf beiden Seiten. Lustigerweise könnten auch beide Parteien einfach auf die Regierung sauer sein. Das wär dann vielleicht tatsächlich produktiv.

Als Katalysator in diesen Prozessen eignete sich die Flüchtlingskrise hervorragend. Klar, wir hätten in Deutschland (und weltweit) andere Probleme, die deutlich dringender sind, aber keins, dass sich so schön verbocken lässt. Unglücklicherweise sind dabei die Medien in einer Art Sippenhaft gelandet, aber das ist wohl die Konsequenz, wenn man als meistgekaufte Zeitung im Land eben keinen Qualitätsjournalismus hat und einfach vorne drauf druckt, was die höchste Auflage verspricht.

Was passierte z.B. in Chemnitz zum Thema Flüchtlinge im Jahr 2015? Ziemlich viel. Es gab in ganz Sachsen nämlich nur eine Erstaufnahmeeinrichtung. Diese Einrichtung nahm dann 70.000 Flüchtlinge auf. Wohlgemerkt bei einer Einwohnerzahl von ca. 246.000. Man könnte auch sagen, in dieser Zeit waren fast 30% der Bewohner Flüchtlinge. Mal so zum Vergleich: Mainz hat so ungefähr die gleiche Einwohnerzahl wie Chemnitz. Was wäre hier wohl passiert?

In der gleichen Zeit wurde in Sachsen erheblich am Personalbestand der Polizei eingespart. Nicht nur, dass die Stellen der erfahrenen Pensionäre nicht mehr aufgefüllt wurden, es gab auch für die jungen kaum bzw. keine Weiterbildung und – ganz wichtig – politische Bildungskurse. Dazu kommt, dass man dauernd nur aus den (Kriminalitäts-)Statistiken das vorliest, was einem in den Kram passt und unbequeme Inhalte einfach verschweigt. Ganz verheerend besonders bei Menschen, die es gewohnt sind, sich mit den Hintergründen einer Nachricht zu beschäftigen. So vergrault man die gut Informierten und Engagierten zuerst.

Man sieht, die Hauptzutaten sind schnell ausgemacht. Man bringt eine Bevölkerung dazu, sich vor der eigenen Zukunft zu fürchten, lässt sie erleben, wie sich Zukunfts- u. Lebenspläne in Luft auflösen, zerstört die (eigene) Glaubwürdigkeit als Politiker und setzt das Ganze dann unter Dampf, indem man noch eine Überlast an Integrationsbedarf abwirft, ohne die Region darauf vorzubereiten bzw. zu unterstützen. Damit es nicht nur ein Strohfeuer bleibt, bringt man mit einer Konkurrenzgruppe noch genügend Potential zum Abarbeiten an den Start…. und schon bauen sich weitere Nazis ganz von selbst. Schade das man die Geschäftsidee nicht zu Geld machen kann. Ein echter Selbstläufer.

Bevor mir jetzt jemand den Aluhut schickt: Ich glaube nicht, dass es eine Verschwörung ist, von dunklen Gestalten in dunklen Hinterzimmern ausgedacht. Ich glaube vielmehr, das ist das Resultat, wenn man genügend unfähigen Menschen zu viel Macht gibt. Es entwickelt einfach eine Eigendynamik.

Was ist die Moral von der Geschichte? Wenn ihr wollt, dass es weniger Nazis gibt, müsst ihr dafür sorgen, dass die wichtigsten Baumaterialien dafür fehlen. Die bestehenden Nazis anzuschreien, wird gar nichts ändern. Wie man sieht, wird die Zahl derer, die wir an den rechten Rand verloren haben eher größer statt kleiner. Trotz (oder wegen) totaler Ausgrenzung. Die Menschen, die mit Hitlergruß und „Töten“-Rufen durch die Stadt ziehen, wird man kaum noch erreichen können. Die Ganzen, die stumm mitlaufen, schon. Vielleicht wäre es wirkungsvoller, wenn man auf der „Gegenseite“ nicht schreiend und laut ausgrenzen würde. Wie wäre es mit einer komplett stillen Mahnwache und einem Plakat: „Kommt zurück. Wir brauchen Euch“? So ist es nämlich. Wir brauchen jede Stimme, wenn wir eine Regierungsbeteiligung der AfD verhindern wollen. Und noch viel mehr Stimmen, wenn wir endlich einmal eine Regierung haben wollen, die sich auch um die Menschen statt um Mehrheiten kümmert.

Danke für’s Lesen. Seid lieb!

Euer Christian

#keinPolitiker

 

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Wir hatten Gerechtigkeit erhofft, doch bekommen haben wir den Rechtsstaat.

In den letzten Tagen wäre ich besser abstinent geblieben. Nicht was Wein, Weib und Gesang angeht – mehr auf die Nachrichten bezogen. Der Prozess um den Kindesmissbrauch in Staufen ist in jeder denkbaren Dimension undenkbar, nicht auszuhalten und lässt mich, wie wahrscheinlich die Meisten, ratlos zurück. Über das Unverständnis, was Menschen anderen Menschen, besonders Kindern, antun können, will ich heute nicht schreiben. Ich will mir auch ersparen, auf die Details der Tat einzugehen, oder die Frage zu stellen, wie es überhaupt so weit kommen konnte. Jeder, der die Abläufe und Hintergründe recherchiert hat, wird wohl wie ich nur schwer Schlaf gefunden haben.

Quelle: Wikipedia

Schreiben will ich lieber darüber, wie wir als Gesellschaft mit diesem Fall umgehen, oder etwas genauer, wie unser Rechtsstaat damit umgeht. Unser Rechtsstaat wird in diesem Fall von Juristen repräsentiert, sowohl auf der Seite des Anklägers als auch bei den Verteidigern und, natürlich, in Form von Richtern. Über Juristen habe ich schon das ein oder andere mal geschrieben. Sie stellen einen Sonderfall in unserem System dar. Sie sind quasi die Einzigen, denen man erlaubt, die Regeln, die das Zusammenleben aller Menschen in diesem Land organisieren sollen, zu interpretieren. Zusätzlich stellen Juristen auch die überwiegende Mehrheit der Bundestagsabgeordneten. Man könnte also sagen, unser Land wird von Juristen gestaltet und gelenkt. Kann man mögen – muss man aber nicht. Möglicherweise gibt es viele Juristen, mit denen man sich gerne umgibt. Ich persönlich hätte aber Mühe, mehr als die Mindestbesetzung für eine Skatrunde zusammen zu bekommen. Das liegt im Wesentlichen an der (häufig) sonderbaren Art, wie sie die Welt sehen und mit ihr umgehen. Besonders wenn es mal nicht so läuft, wie sie es gerne hätten. „Den“ Juristen gibt es sicher nicht – es sind eben Menschen, jeder ist anders. Deswegen müssen wir uns behelfsmäßig Einzelfälle ansehen.

Der Prozess in Staufen ist ohne Zweifel für die Bundesrepublik von besonderer Bedeutung. Deshalb ist es kein Zweifel, dass man in Heidelberg einen erfahrenen Richter den Vorsitz übertragen hat. Über die Vita von Richter Bürgelin konnte ich wenig in Erfahrung bringen, aber ich denke, man hat dort sicher einen der „Besten“ ausgewählt, um dieses Thema zu verhandeln. Missbrauch ist für Richter Bürgelin kein neues Thema. Er hat bereits in einigen anderen Fällen in diesem Themenkomplex geurteilt, zuletzt im Mai 2018, als er einen Soldaten zu 8 Jahren Haft wegen Kindesmissbrauchs verurteilte. Interessantes Detail an diesem Fall: auch hier sah der Richter keine gesetzliche Handhabe, um für den Angeklagten nach der Haft Sicherheitsverwahrung anzuordnen.

Sicherheitsverwahrung ist eine gefährliche Waffe, deren Missbrauch zu Recht durch allerlei Gesetze – auch auf EU Ebene – verhindert werden soll. Trotzdem ist es verfassungskonform, dass man ein Instrument hat, dass es ermöglicht, die Gesellschaft – auch nach dem Verbüßen  einer Freiheitsstrafe – vor einem potentiellen Straftäter zu schützen. Es ist der einzige Fall, in dem eine Person ohne Straftat in Haft gehalten wird.

Auch in Staufen wurde Sicherheitsverwahrung für die Mutter abgelehnt. Sie wurde zu zwölfeinhalb Jahren Haft, wegen schweren sexuellen Missbrauchs, schwerer Vergewaltigung, schwerer Zwangsprostitution, Menschenhandel, sexueller Ausbeutung, Besitz und Herstellung von Kinderpornographie verurteilt. Dazu kommen noch hohe Geldstrafen. Eine Rolle für den Verzicht auf Sicherheitsverwahrung spielte dabei sicher auch der Gutachter Dr. med. Hartmut F. Pleines (Arzt, Facharzt für Psychiatrie & Psychotherapie) aus Heidelberg. Auch dieser Mann ist kein Unbekannter. Dem eifrigen Zeitungsleser ist Herr Dr. Pleines schon häufiger in aufsehenerregenden Prozessen als Gutachter aufgefallen, so z.B. im Prozess gegen Kachelmann, in dem er ein Gutachten ablieferte, ohne direkt mit dem Beklagten zu sprechen.  Bei der Angeklagten Berrin T. hatte er mehr Möglichkeiten. Deshalb konnte er auch detailliert im Gutachten und auch im Gerichtssaal berichten. Es kommt einiges zur Sprache. Der geringe IQ der Angeklagten (62-75), der frühe Tod der Eltern, das Aufwachsen bei den Großeltern, Hauptschulabschluss, aber auch die Aussage, dass es bei Berrin T. in der Kindheit und auch später keine eigenen Erfahrungen mit Missbrauch gegeben hat. Das ist selten, da die meisten Menschen, die Missbrauch betreiben, selber Erfahrungen mit Missbrauch haben. Es gibt auch keine Diagnose in Richtung psychischer Auffälligkeiten. Berrin T. ist gesund. Pleines teilt mit, „Frau T. ist eine Frau, die durchaus auf Zeiten beruflicher Anpassung zurückblicken kann“. Sie habe durchaus stabile Lebensverhältnisse gehabt, sich konstruktiv mit Leistungsträgern und Vermietern gestritten und allen jugendamtlichen Interventionen getrotzt. Stattdessen sei bei Berrin T. von einer Lernbehinderung auszugehen. Er sieht sie jedoch als voll schuldfähig: „Frau T. ist nicht in einem Maße minderbegabt, dass ihr die Einsichtsfähigkeit in ihr Tun fehlen würde“. Erst am Ende des Berichts kommt der Hammer: „Frau T. ist weit von einer eingewurzelten Bereitschaft zu Rechtsbrüchen entfernt“ meint Pleines. Er sieht die Tat den „Umständen“ geschuldet. Aus diesem Grund hält er Sicherungsverwahrung nicht für nötig.

Ich bin sicherlich kein prominenter psychologischer Gutachter wie Herr Dr. Pleines, aber so ein wenig ist aus meinem Psychologiestudium doch hängengeblieben – hauptsächlich was man als Psychologe NICHT mit Sicherheit sagen kann. Selbst wenn die Taten „nur“ den Umständen geschuldet wären, wie kann ich garantieren, dass Berrin T. nicht nach ihrer Entlassung wieder in eine ähnliche Konstellation gerät? Offensichtlich hat es ihr darin so gut gefallen, dass sie bereit war, ihr eigenes Kind zu opfern und selbst der Gutachter sieht kein bis sehr wenig Einsicht in die begangenen Straftaten.

Das Urteil von 12 Jahren ist kein Pappenstiel, trotzdem, es bleibt die Frage, was jemand tun muss, um das mögliche Strafmaß voll auszuschöpfen? Maximal wären 15 Jahre plus anschließende Sicherheitsverwahrung möglich gewesen. Dies ist laut Gesetz bei „schwerster Schuld“ zu verhängen. Wenn man davon ausgeht, dass Richter Bürgelin nach Recht und Gesetz geurteilt hat, muss es ja offensichtlich mildernde Umstände gegeben haben – weswegen nicht das volle Strafmaß verhängt wurde. Das war kein Versehen. Zitat Bürgelin: „Uns ist bewusst, dass die Öffentlichkeit das Urteil als zu milde bewerten wird.“ Ich sehe nicht, was Berrin T. als schuldmindernd gelten machen könnte. Es gibt keine Einsicht, keine nach außen sichtbare Reue, kein echtes Geständnis – immer nur zugeben, was nicht mehr zu leugnen ist – und auch dem Kind wurde eine Befragung durch ein umfassendes Geständnis nicht erspart. Alles Dinge, die bei dem Mitangeklagten zu finden waren – der übrigens eine höhere Strafe erhalten hat.

Scheinbar war für die beteiligten Juristen alles in Ordnung. Selbst die Anklägerin Novak war zufrieden: „…es ist ein guter Tag für den Rechtsstaat. In dem Verfahren konnten alle Beteiligten ihr Gesicht wahren. Wir gehen auseinander und können uns gegenseitig in die Augen sehen. Das erlebt man mit solchen Angeklagten nicht alle Tage.“ Na, dann bin ich ja froh, dass alle so happy sind. Ich bin’s nicht und ich glaube auch nicht, dass dies für das betroffene Kind gilt. Wahrscheinlich werden aus den 12 Jahren bei guter Führung 6 und diese Mutter ist wieder draußen. Dann können die Strukturen wieder wegsehen, die zu diesem Fall geführt haben. Offenbar stimmt die Redewendung wirklich: Auf See und vor Gericht ist alles möglich.

Am Ende fällt mir dazu ein Zitat von Bärbel Bohley ein: „Wir hatten Gerechtigkeit erhofft, doch bekommen haben wir den Rechtsstaat.“

Peace und danke für’s Lesen.

C.

#keinPolitiker

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Dann nennt mich halt Nazi….

Die Nazis von 1933 würden sich wahrscheinlich im Grab umdrehen, wenn sie hören würden, wer heutzutage alles Nazi genannt wird. Damals, also 1933, musste man (sich) schon einiges leisten, um wirklich als Nazi akzeptiert zu werden. Bei Juden Scheiben einwerfen, Behinderte anzeigen und deportieren, Kinder und Jugendliche zu Soldaten „heranformen“. Gauleiter wurde man nicht einfach so! Heute, so scheint es mir häufig, gibt es ja überall Nazis – quasi. Es reicht allerdings schon, wenn man nicht in der Karenzzeit von 30 Sekunden empört und unter Protest aufspringt, wenn jemand den Raum betritt, der in seiner Facebook-Freundesliste einen hat, der einen kennt, der wahrscheinlich AfD wählt. Harte Zeiten, kein Nazi zu sein. Die sind ja plötzlich überall.

Das Thema würde sich so gut für Satire eignen, wenn es nicht so traurig real wäre. Das „gute“ Deutschland steht geschlossen gegen Rechts – nur dass scheinbar bei einigen der Kompass kaputt ist. Da wird gegen Faschismus demonstriert und im gleichen Atemzug politisch anders Denkenden das Demonstrationsrecht abgesprochen. Da ist man gegen Gewalt, verhaut aber ganz gerne mal Menschen, die die „falsche“ Parteiflagge tragen. Insgesamt scheinen die demokratischen Ideale im Moment eher eine Frage der Windrichtung. Ich konnte es gar nicht glauben, als mir bei einer Demo in Mainz erklärt wurde, es gäbe kein Recht auf Nazipropaganda. Leider falsch! Gibt es sehr wohl in einer Demokratie. Solange das nicht im Widerspruch zu den gültigen Gesetzen steht, darf jeder beliebig Dummheiten von sich geben. Auch wenn mir das nicht passt. Wobei… bei „Kein Recht auf Dummheit“ – egal von welcher Himmelsrichtung – wäre ich sofort dabei. Faschismus beginnt genau da, wo ich mir Sonderrechte einräume, weil ich ja „der Gute“ bin.

Wir buhen, pfeifen und grenzen aus, was das Zeug hält, wenn die AfD & Co. irgendwo erscheint. Im Bundestag sind sich die Parteien nur bei 2 Punkten einig: bei Diätenerhöhungen und dass die AfD Scheiße ist. Ich verstehe schon, dass man das Bedürfnis hat, gegen Rassismus und Fremdenhass etwas zu unternehmen. Allerdings sollte man von Zeit zu Zeit auch mal schauen, ob das bisherige Verhalten den gewünschten Effekt hatte. Was haben wir denn bisher erreicht, sagen wir in den letzten 3 – 4 Jahren? Konnten wir „die Bösen“ zurück drängen? Gibt es jetzt weniger fremdenfeindliche Parolen? Haben wir die Ursachen dafür wirkungsvoll bekämpft? Pustekuchen! Es wurde eher schlimmer als besser und ich darf gar nicht daran denken, wie die nächste Wahl wohl ausgeht.

Kein Mensch wird als Nazi geboren – nicht mal in Sachsen. Ich glaube auch, dass 95% der Menschen, die AfD wählen, weit davon entfernt sind, wirklich Nazi zu sein. Es mag nicht schlau sein, aber sie wählen die AfD aus Angst – nicht aus Hass. Und genau deshalb, machen wir es immer schlimmer und werden den Zulauf der rechten Parteien nicht mindern können. Statt diesen Menschen ihre Angst um Zukunft, wirtschaftlichen und sozialen Abstieg oder Sicherheit zu nehmen, kesseln wir sie lieber bei Demos ein, hetzen bei jeder Gelegenheit über sie und machen deutlich, dass sie „nicht zu Deutschland“ gehören. Jetzt mal ehrlich – das soll funktionieren? Zurückdrängen der Rechten durch Ausgrenzung? Lief ja die letzten Jahre super.

Wenn wir wollen, dass es weniger Rechte gibt, sind – so glaube ich – 2 Dinge elementar: Wir müssen wieder ehrlich sein und wir müssen diesen Menschen die Angst nehmen. Zum Glück – oder Unglück – sind diese beiden Punkte eng miteinander verknüpft.

Was meine ich mit „ehrlich sein“? Keine Sau glaubt noch einem Politiker. Wir werden permanent mit lustigen Statistiken berieselt, dass alles gut ist. Wer genauer hinsieht, stellt schnell fest, dass hier gerne mal Details ausgelassen werden. Mein Lieblingsbeispiel ist das Thema Kriminalität bei Zuwanderern bzw. Asylanten. Offiziell hören wir etwas über einen insgesamt gesunkenen Level an Kriminalität. Wer sich aber die Mühe macht, findet in den Zahlen tatsächlich Besonderheiten, die auf Zuwanderung und Asylrecht zurück gehen. Es ist also durchaus berechtigt, sich Gedanken zu machen, inwiefern Asylsuchende die Sicherheit der Bürger beeinflussen. Deswegen ist man noch lange kein Nazi. Außerdem ist es für einen normalen Bürger kaum einsehbar, warum er bei jeder kleinen Ordnungswidrigkeit sofort – bis zur Durchsetzung von Ordnungshaft – vom Staat zur Rechenschaft gezogen wird, während man andererseits einfach Regeln und Gesetze außer Kraft setzt oder Jahre braucht, um einen Kriminellen wieder abzuschieben – falls das überhaupt möglich ist. Mir ist klar, dass es für die langen Verfahren gute Gründe gibt, die nun mal in der Natur eines Rechtsstaats (Widerspruchsrecht) liegen, aber das hilft den meisten Menschen in ihren jeweiligen Lebensumständen überhaupt nicht.

Insgesamt scheint die Frage des Asyls der Prüfstein unserer Gesellschaft zu sein. Ich wollte es wäre anders, denn es gibt kaum eine schwierigere Frage. Auch hier, denke ich, sollten wir zuerst ehrlich mit uns selbst sein. Das wir in Deutschland geboren sind und nicht in Mali, ist Zufall. Wir waren wahrscheinlich nur wenig am deutschen Wirtschaftswunder beteiligt und kaufen gerne Waren, die billig aus dritte Welt Ländern eingeführt werden oder von deren Arbeitskräften erzeugt wurden. Wir haben in den letzten 50 Jahren wahrscheinlich nicht effizient gegen Krieg in aller Welt gekämpft und arbeiten gerne in einem Betrieb, der u.U. von der EU Wirtschaftspolitik, die dritte Welt -Staaten ausbeutet, profitiert. All das ist so, aber falls wir nicht gerade zu den paar hundert Politikern oder Industriellen mit echter Macht gehören, haben wir wenig Möglichkeiten daran etwas zu ändern. Der ethische Imperativ sagt uns ganz klar: unser Leben ist nicht mehr wert, als der des 15-jährigen Jungen aus der Sahelzone, der sich auf den Weg nach Europa macht. Insofern gibt es keine „moralische“ Rechtfertigung, Menschen den Zugang zu unserem Land zu verweigern. Jedes Leben zählt gleich und deswegen kann „Asyl“ – als lebensrettende Maßnahme – eigentlich keine Obergrenze haben. Eine Grenze wäre sowieso aus dieser Sicht paradox. Wenn ich z.B. 100 Leben rette, wieso dann nicht 101? Es gibt schlicht keine Zahl, ab der unser System einfach kollabiert. Es ist ein schleichender Prozess.

 

Von Gottlieb Doebler – http://www.philosovieth.de/kant-bilder/bilddaten.html, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=32847847

Ich bezweifle das Kant mit seinem kategorischen Imperativ das wirklich hätte leben können, wenn er denn mal aus Königsberg und seinem Elfenbeinturm herausgekommen wäre. Ich gestehe, ich könnte das nicht. Auch wenn mir klar ist, dass alles Leben gleich viel wert ist, werde ich das Leben der Menschen, die ich liebe, immer höher schätzen als das von Fremden. Möglicherweise macht mich das zu einem kaltherzigen Nazi, aber so ist es. Ich bin bereit, unmoralische Dinge zu tun (bis zu einem gewissen Punkt), wenn ich damit meine Kinder, Frau, Familie oder Freunde schützen kann. Selbst wenn es um die Abwehr zukünftiger Gefahren – die vielleicht nie real werden – geht. An alle, die jetzt erschüttert den Kopf schütteln: Es ist ziemlich wahrscheinlich, dass ihr in einer konkreten Situation auch so handelt. In der Psychologie spricht man dabei von In-Group und Out-Group Effekten – die in unserem sozialen Gehirn fest verdrahtet sind. Wir werden immer im Interesse unserer Sippe handeln, wenn es eng wird. Trotzdem sind wir Menschen zu größtem Mitgefühl fähig und unser Gehirn ist nur deshalb so leistungsfähig, weil es ein Organ zum Leben in sozialen und teilweise altruistischen Systemen ist.

Wie passt das mit unseren Nazis zusammen? Die Konstellation ist einfach zu verstehen. Menschen, die auf ihrer Flucht nach Europa kommen, sind die Out-Group, die mit den Einheimischen um Ressourcen konkurrieren. Das erzeugt Angst, noch bevor sich Mitgefühl einstellen kann. Dabei wäre Mitgefühl eine unserer großen Stärken. Keine andere Tierart verfügt über derart ausgeprägtes Mitgefühl. Wie könnte man das nutzen?

Zunächst: Mitgefühl entsteht bei Menschen immer nur in einem Kontext von Gerechtigkeit und Wertschätzung. Jemand, der sich ungerecht gegenüber anderen verhält, oder das Mitgefühl nicht schätzt, verliert schnell die Unterstützung seiner In-Group. Es ist für uns wichtig, dass der Mensch, mit dem wir fühlen, es auch verdient. Dabei gibt es auch eine Art biologisch einprogrammierte Prioritätenkette von schwach nach stark. Deswegen schwillt vielen der Hals, wenn auf den Rettungsboten im Mittelmeer nur Männer zwischen 18 und 25 sitzen. Unsere „Frauen und Kinder zuerst“-Regel im Kopf ist schon seit den Anfängen der Evolution trainiert und lässt sich von Quotenregelung und Gleichberechtigungsbemühungen nur wenig beeindrucken. Sie ist nicht nur biologisch sinnvoll (Erhaltung der Art), sondern auch moralisch einwandfrei – der Starke hilft dem Schwachen. Es ist kein Geheimnis, dass diejenigen, die es bis ins Mittelmeer schaffen, zwar unmenschlich leiden, aber immer noch die „starken“ sind, gegenüber denjenigen – oft eben Frauen, Kinder, Alte – die auf dem Weg ans Meer weder die Kraft noch das Geld hatten. Die ganz Schwachen fischen wir nicht aus dem Meer. Wir lassen sie in den Krisengebieten sterben.

Von Frank C. Müller, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=47487290

Ich will nicht, dass jemand im Mittelmeer auf der Flucht ertrinkt und das Bild des kleinen Alan Kurdi werde ich sicher nie wieder vergessen können. Die Frage ist, machen wir es besser, wenn wir diese Menschen dann nach Europa bringen oder sollten wir sie wieder an die Küste Afrikas zurück bringen? Ich befürchte, auf diese Frage gibt es keine Antwort mit der ich leben könnte. Ich bin eher dafür, das der Westen die Fluchtrouten organisiert, und zwar mit Startpunkt in den jeweiligen Krisengebieten und einer Auswahl vor Ort. Keine gefährliche Reise, kein Geld an Schleuser, kein Ertrinken, keine Zwangsprostitution und keine Kriminalität, weil man sich an die Spitze der Nahrungskette beißen will. Wir suchen nach humanitären Gesichtspunkten aus! Kinder, Frauen, Alte… Es dürfte nicht schwierig sein, sich auf ein Regelwerk zu einigen, dass für den Westen funktioniert. Dann bringen wir die Asylsuchenden in unser Land. Daneben würde keine weitere Einreise mehr geduldet.

Es bliebe natürlich noch die Frage der Zahl. Wie viel verträgt unsere Gesellschaft? 10.000, 100.000, 1.000.000 oder vielleicht Alle, die kommen wollen? Wie kann man es schaffen, dass die Menschen ihr Herz bis an die absolute Grenze dessen, was machbar ist, öffnen können, ohne Angst zu bekommen? Vielleicht würde es helfen, wenn man aufhört, nach nur einer Zahl zu suchen. Deutschland besteht aus einer großen Anzahl von Städten und Gemeinden. Alle ähnlich, und doch immer anders. Jede Zahl, die die Bundesregierung festlegt, wird von den Bürgern als „von oben beschlossen“ empfunden – gleichsam von einer anderen Out-Group festgelegt. Was wäre, wenn nicht Deutschland eine Quote für Asylsuchende festlegt, sondern jedes Dorf und jeder Stadtteil selbst? Was glaubt ihr? Stimmt die Bevölkerung eher für eine abstrakte (hohe) Zahl für die Bundesrepublik oder lieber für die Anzahl der Asylanten in der direkten Nachbarschaft? Was würde passieren, wenn man regelmäßig im Gemeindeblatt lesen würde, „Hallo, wir haben 3 allein erziehende Mütter, 4 Familien und einen Rentner, der in Deutschland Asyl sucht. Haben wir Platz (und ein Herz) für diese Menschen?“ Ich glaube, dass es auf diese Art viel mehr Platz für Asylsuchende gäbe. Am Ende wäre die Gesamtzahl wahrscheinlich viel höher als alles, was politisch als Obergrenze durchzusetzen wäre. Es ist schlicht einfacher, eine Entscheidung für das eigene soziale Umfeld zu treffen, als mit Direktiven von oben zu leben. Außerdem würde man auf diese Weise die „Out-Group“ zur „In-Group“ machen. Viel weniger Angst wäre die Folge. Wenn wir es dann noch schaffen, in Politik und Gesellschaft wieder ehrlicher zueinander und mit uns selbst zu sein, Menschen nicht einfach als Nazi abstempeln, sondern deren Ängste anzuerkennen und (hoffentlich) auch zu nehmen, könnte es wirklich funktionieren mit Deutschland.

Klar, das wäre logistisch, organisatorisch und politisch eine riesen Anstrengung – aber es wäre es wert. Wir hätten wieder Frieden. Dafür lass ich mich sogar Nazi nennen….