
Deutschland ist, ohne Frage, das Land der Bescheinigungen und Nachweise. Ich wette, in keinem anderen Land auf der Welt muss man für jeden Pieps eine Bescheinigung und einen ausführlichen Qualifikationsnachweis vorlegen – in 3-facher Ausfertigung und mit Stempel. Das fängt schon früh an. Selbst als Baby muss man sich seine Gesundheit beim Arzt mit einem Stempel in den Babypass bestätigen lassen – und wehe einer der „U“-Stempel ist nicht drin. Später sind es dann die Zeugnisse oder das Sporttauglichkeitsgutachten vor dem ersten „offiziellen“ Fußballspiel. Wer glaubt, als Erwachsener der Sache entkommen zu können: Von wegen. Für die meisten Berufe gibt es einen Ausbildungszwang, bevor man z.B. als Elektriker oder KFZ-Mechaniker fachgerecht arbeiten darf. Wer selber die Aufsicht führen will, muss einen Meister machen, und zur Ausbildung junger Menschen muss man sogar eine Ausbildereignung nachweisen. Das Ganze dient der „Qualitätssicherung“ und ehrlich gesagt finde ich das in den meisten Fällen auch sinnvoll. Eine gute Ausbildung ist was wert und auf der ganzen Welt schätzt man die Qualifikation der „Deutschen“. Das Ganze ist natürlich nicht nur auf potentiell gefährliche Bereiche beschränkt. Selbst wenn ich auf dem Schulfest der Kinder Würstchen für einen guten Zweck verkaufen will, komme ich um einiges an Papierkram nicht drum rum. Wenns blöd läuft, wollen die Helikopterelten auch noch einen Durchschlag des Gesundheitszeugnisses – oder fordern vegane Würste. Auch wenn heute jeder in seinem Handy eine Kamera hat, Fotograf ist man nur nach 3-jähriger Ausbildung – ganz egal wie gut man knipst. Auch zum Fischen von Muscheln, die nun nachweislich kein Gehirn bzw. Bewusstsein haben, brauch ich einen Angelschein. Den gibt es dann in allen möglichen Geschmacksrichtungen (Tümpel, Küste, vom Boot, auf dem Meer, usw.). Scheinbar ist Gefahr aber nicht unbedingt ein Kriterium. Sportschütze wird man relativ einfach und der „kleine“ Waffenschein ist nur Formsache. Auf Prüfungen bzw. Fähigkeitsnachweise wird offensichtlich gerne mal verzichtet, auf den kostenpflichtigen Stempel nie.
Ganz krass ist es, wenn man an Menschen herumdoktern will. Mehr als 6 Jahre dauert es, wenn man Mediziner werden will. Eine der umfangreichsten Ausbildungen überhaupt. Ganz ähnlich ist es bei den Psychologen, die ich hier mal als Beispiel benutzen will, weil ich mich da besser auskenne. Um Psychologie zu studieren, muss man, wegen dem Nummerus clausus, erst einmal ein Top-Abitur abliefern. Jedes Jahr gibt es weit mehr Bewerber als Studienplätze. Wer das geschafft hat, muss erst mal 3 Jahre bis zum Bachelor studieren. Da wird dann wieder gesiebt, und nur die Besten haben die Chance auf einen Masterplatz. Der Master dauert wiederum ca. 2 Jahre. Wer dann z.B. als Psychologe mit eigener Praxis für die Krankenkasse arbeiten will, muss zusätzlich noch eine Therapieausbildung machen – die dauert noch einmal 3 Jahre. Nach dem Abi also insgesamt 8 Jahre Ausbildung. Danach darf ich dem Patienten dann in einer Therapie Vorschläge machen, wie er sein Leben optimieren könnte. Wohlgemerkt: Vorschläge. Keine Weisungsbefugnis oder der Anspruch auf Unfehlbarkeit und die einzig ewige Wahrheit.
Wie schon gesagt, dass Ganze dient dem Schutz der verfassungsmäßigen Rechte. Das sind `ne ganze Menge: Würde, Privatsphäre, freie Entfaltung der Persönlichkeit, Gleichheit, Unverletzlichkeit der Wohnung, Anspruch auf rechtliches Gehör und – mein Lieblingsrechtsgut – die Familie. Wie wir mittlerweile wissen, ist Familie nicht immer Vater, Mutter, Kind. Es gibt da viele Möglichkeiten, von Alleinerziehend bis Patchwork. Da es sich bei der Familie offensichtlich um ein extrem wichtiges Rechtsgut handelt, würde man annehmen, dass diejenigen, die sich beruflich mit Familien beschäftigen, bis unter den Haaransatz ausgebildet sind. Ein Arzt braucht z.B. eine Facharztausbildung, um Kinderarzt zu werden. In den Kinderkrippen und Kindergärten sind es im Regelfall ausgebildete Erzieherinnen, die 3 Jahre Ausbildung (davon mindestens 1 Jahr praktisch) hatten. Lehrer funktioniert so ähnlich, wobei die Fachausbildung da überwiegt. Es wird also eher der Stoff als der Lehrkörper trainiert, aber auch hier erfolgt eine mehrjährige Ausbildung. Soweit, so gut – aber was passiert, wenn man als Familie in einer Krisensituation wirklich Hilfe benötigt? Woher kommen da die Fachleute?

Wenns kracht, sind die ersten Mitkombattanten in der Regel Anwälte. Die kennen sich mit Gesetzen super aus (viele Jahre Studium), sind aber sicher unverdächtig, wenn man nach pädagogisch oder psychologisch geschulten Menschen sucht. Es geht dann nicht mehr um „wie bekommen wir das mit möglichst wenig Schmerzen hin“ sondern „der, dessen Haus am längsten brennt, hat gewonnen“. Die Aufgabe ist es, möglichst viel für den Mandanten und oft auch möglichst viel Ärger für den „Gegner“ herauszuholen. Jede dritte Ehe wird geschieden. In der Mehrzahl reicht die Frau die Scheidung ein und in 50% aller Scheidungen gibt es Kinder unter 18 Jahren. Insgesamt waren 2014 rund 134.800 minderjährige Kinder von der Scheidung ihrer Eltern betroffen. Leider konnte ich unter dem Stichwort „einvernehmliche Scheidung“ kein Zahlenmaterial finden, aber es handelt sich dabei wohl eher um eine exotische Lösung. Das bedeutet, statt eines unabhängigen „Sachverständigen“, der sich neutral um eine faire Lösung für alle beteiligten Parteien kümmert, schicken wir zwei Kämpfer ins Rennen, die dann „gut“ sind, wenn der Ex-Partner ans Kreuz genagelt wurde und das Ganze auf der Basis starrer Regeln, die für alle gleich gut passen müssen. Bin ich der Einzige, für den sich das absurd anhört? Damit aber noch nicht genug.
Da häufig Kinder an Scheidungen beteiligt sind, ist es auch nur eine Frage der Zeit, bis das Jugendamt mitspielt. Egal, ob es um eine Umgangsregelung oder Familienhilfe geht. Die Mitarbeiter beim Jugendamt haben ziemlich weitreichende Befugnisse. Nicht nur, dass es feststellt, was das Kindeswohl ist und wann ein Kind aus der Familie genommen wird. Es hat mit seiner Stellungnahme bei Gericht auch wesentlichen Einfluss auf Umgangs-, Besuchs- und Sorgerechtsregelungen. Die Ausbildung von Jugendamtsmitarbeiter kann dabei sehr variieren. Manchmal reicht eine Ausbildung als Verwaltungsfachangestellte, in einigen Fällen wird ein Studium der Sozialwissenschaften o.ä. gerne gesehen. Als Verwaltungsfachangestellte sind sie, was die Beurteilung von Kindeswohl und Co. auf ihre bisherige Lebenserfahrung angewiesen. Das findet nämlich während der Ausbildung nicht statt. Sollten sie mit ihrer Einschätzung einmal falsch liegen: Nicht so schlimm. Das Elternteil, das sich falsch behandelt fühlt, hat nämlich kaum die Chance, gegen ihren Beschluss vorzugehen. Ich habe mir einmal die Mühe gemacht, und habe z.B. bei Väterforen nachgefragt, wie viele wirklich schon mit einem Einspruch beim Jugendamt Erfolg hatten. Die Palette ging von schriftlich beschweren, über Termin beim Chef bis hin zur Klage. Ich konnte keinen Fall finden, bei dem es tatsächlich etwas genutzt hätte. Damit hätten wir also schon den zweiten Laien im Bunde, der maßgeblich darüber bestimmt, was der Schutz des Grundgesetzes in der Praxis wirklich wert ist.
Als nächstes gibt das Jugendamt die Familienhilfe wahrscheinlich an eine externe Organisation ab. Davon gibt es viele in Deutschland. Die meisten sind unter kirchlicher Trägerschaft. Das bedeutet aber keineswegs, dass diese Organisation nicht profitorientiert arbeitet. Nehmen wir ein konkretes Beispiel – den Namen der „Firma“ lass ich aus rechtlichen Gründen lieber weg. Ein Verein, der sich auf der Webseite als Unternehmen bezeichnet, in Trägerschaft einer großen Volkskirche. Der „Verein“ hat mehr als 2.000 Mitarbeiter und mehr als 60 Standorte. Er berechnet dem Jugendamt ca. 60€/Stunde für die Familienhilfe. Gearbeitet wird im Tandem, d.h. ein Mitarbeiter betreut die Kinder, ein anderer Mitarbeiter „berät“ und ist bei den Elterngesprächen anwesend und moderiert. Die Qualifikation der Mitarbeiter ist weit gestreut. Es ist aber sicher kein Einzelfall, wenn ich behaupte, dass die Leistungsstunden in der Regel von Studenten, oder bestenfalls von frischgebackenen Bachelors geleistet werden. Im Klartext heißt das, dass die Betreuung und die spätere Einschätzung, welche Schritte z.B. beim Umgangsrecht eingeleitet werden sollen, unter Umständen (wahrscheinlich häufiger, als uns lieb ist) von einem Mitarbeiter ohne die entsprechende formale Qualifikation vorgenommen wird – der trotzdem voll bezahlt wird. In der Regel sehr junge Menschen, die dadurch zwar einen guten Draht zu jüngeren Kindern haben, aber im Regelfall kaum oder keine Erfahrungen haben, was Erziehung und Eltern-sein wirklich in der Praxis bedeutet – zumindest außerhalb einer „Besuchssituation“. Wer Glück hat, gerät an einen erfahrenen Sozialpädagogen oder Erziehungswissenschaftler. Das geht vergleichsweise schneller, als ein Psychologiestudium und man darf viel früher über das Schicksal von Menschen entscheiden. Erziehungswissenschaften (und die Ausbildung von Lehrern) wird zu 77% von Frauen belegt. Ich will ja niemanden Parteilichkeit unterstellen, aber bei meinen eigenen Erfahrungen ist schon deutlich gewesen, dass Rollenstereotypen gerne genommen werden. Es erfordert einen ziemlichen Aufwand und Nerven, permanent beweisen zu müssen, dass beide Geschlechter gleichgut Eltern sein können bzw. das Fehlverhalten nicht geschlechterspezifisch ist. Eine Schiedsstelle gibt es auch hier nicht. Der Verein hört sich die Kritikpunkte an (bestenfalls – wer Pech hat, taucht dann im Bericht als aggressiver Gesprächspartner auf) und schreibt dann seinen Bericht ans Jugendamt, welches diesen an das Gericht weiterreicht. Womit wir beim nächsten Punkt wären.
Das Gericht wird als ersten Schritt, zum Schutz des Kindeswohls, einen Verfahrensbeistand bestellen. Dieser ist weder Mutter noch Vater verpflichtet. Er soll die Interessen der Kinder vertreten und ist – welche Überraschung – Jurist. Wie bitte? Also in unseren Gesetzen steht nicht im Detail drin, wie sich Kindeswohl definiert, lediglich, dass es Priorität hat. Deswegen muss sich der Anwalt der Kinder ganz allein überlegen, was das wohl wäre. Wieder kein Psychologe oder ein speziell ausgebildeter Erwachsener. Und wie gewohnt: Gegen das Votum des Verfahrensbeistands gibt es natürlich auch kein Vetorecht. Der Richter entscheidet dann nach Ermessen. Vorher wird wahrscheinlich noch ein Gutachter bestellt. Das im Detail zu beleuchten, würde den Blogbeitrag sprengen, aber um es kurz zu machen: Die Anzahl bekannter schlechter oder schlicht falscher Gutachten an deutschen Familiengerichten ist legendär. Es liegt im Wesentlichen daran, dass die Qualifikation der Gutachter oft fragwürdig ist und die Versuchung mit Copy & Paste – oder insgesamt mit wenig Zeitaufwand – für die Begutachtung zu arbeiten, bei andererseits exorbitanter Entlohnung, wohl vielfach den Gutachter übermannt. Hier wird dann z.B. entschieden, ob Du dein Kind jemals wiedersiehst.
Damit wären wir am Ende der Kette angelangt.

In dem ganzen Verlauf einer Trennung/Scheidung geht es um Menschen. Nicht vorrangig um Vermögenswerte oder Versorgungsausgleich. Überall machen wir ein Riesenbohei um Zeugnisse, Ausbildungen, Zertifikate und Stempel, aber gerade hier setzen wir (fast) ausschließlich fachfremde Personen ein, um den Prozess zu begleiten. Die Ergebnisse sind offensichtlich. In der Regel bedeutet für mindestens eine Partei die Scheidung den finanziellen Supergau und den quasi Verlust der Kinder. Statt den ganzen Prozess in eine neutrale Ecke zu holen und es von ausgebildeten Fachleuten (Psychologen, Rechtsgelehrte, usw.) leiten zu lassen, entscheiden wir uns dafür, die Kriegsparteien mit Gefolge aufeinander zu hetzen und einen qualifizierten Schiedsrichter über weite Strecken einfach wegzulassen. Ein Großteil der Beteiligten wird besser bezahlt, wenn es richtig kracht, oder erhält überhaupt nur Arbeit, wenn die Fetzen fliegen. Gar nicht erwähnt habe ich, wie lange es dauert, überhaupt in so einer Angelegenheit vor Gericht Gehör zu finden. Der Mittelwert bis zur ersten Entscheidung eines Umgangsrecht lag bei den Fällen, die ich mir angesehen habe, bei > 1 Jahr, wobei mehrere Jahre keine Seltenheit sind. Bis alle ihren Senf dazu gegeben haben, dauert es seine Zeit.
Man hat 1976 die Schuldfrage im Scheidungsrecht abgeschafft. Man trug damit der Tatsache Rechnung, dass zu einer gescheiterten Ehe immer 2 gehören. Der Grundsatz „nulla poena since culpa“ – niemand darf bestraft werden, den keine Schuld trifft – ist aber nach wie vor einer der Grundsäulen unseres Rechtssystems. Leider kann ich nicht sehen, dass der Ablauf von Scheidungsverfahren diesem Anspruch gerecht wird. Wenn das Kindeswohl wirklich im Mittelpunkt steht, müsste der Staat von Anfang an dafür sorgen, dass qualifizierte und neutrale Fachleute den Prozess leiten. Stattdessen haben wir eine Realität, die häufig (vielleicht sogar im Regelfall) vor dreckiger Wäsche, Verleumdungen und Entfremdung der Kinder nur so strotzt.
Wo hierbei die Familie – auch nach einer Scheidung gibt es sowas wie Familien – von unserem Grundgesetz besonders geschützt wird, kann ich nicht erkennen. Es erinnert mich eher an ein Sprichwort, das ich mal in USA gehört habe: „Wenn Du als Werkzeug nur einen Hammer hast, sieht jedes Problem wie ein Nagel aus“.
P.S: Ich bin der Letzte, der etwas gegen Autodidakten hätte, und vielfach machen gerade die eine besonders gute Arbeit, weil sie mit Herzblut dabei sind. Leider konnte ich im Kontext Scheidung/Familiengericht keine finden. Das bedeutet jedoch nicht, dass es keine gibt.
Viel Spaß beim Lesen.
Peace. Euer Christian