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Die Toten von Berlin – das Ende der Differenzierung

Mittlerweile läuft das alles ziemlich eingespielt. Schon wenige Minuten nach dem Anschlag bietet Facebook die Funktion „In Sicherheit“ an, die ersten Chronik- und Profilbilder werden angepasst, ausländische Nachrichtenagenturen reden von Terroranschlag und die Deutschen ziehen dann irgendwann am nächsten Tag mit „könnte eventuell Terror gewesen sein“ nach. Die Rechten wollen schon Trucks chartern, um Flüchtlinge abzuschieben, die „Gutmenschen“ (grauenhafter Begriff) posten sofort, dass es egal ist, welcher Nationalität oder Religion der Mörder angehört. Der Innenminister wird wahrscheinlich dann auch irgendwann erzählen, dass wir dringend mehr „Vorsorge“ brauchen und lässt ungesagt, dass es nicht die Technik war, die den Attentäter gefasst hat, sondern Zivilcourage. Ein mutiger Mitbürger hat ihn nämlich einfach verfolgt und die Polizei gerufen. Folgerichtig wären also Kurse in Zivilcourage angesagt, nicht mehr Überwachung.

Da ich ja quasi ein „Linker“ bin (wer weiß, ob das nach dem Beitrag noch so ist), erscheinen bei mir auf Facebook natürlich auch entsprechende Beiträge. Ganz weit vorne ist ein Beitrag, der vom Komiker Ruthe (toller Typ!) direkt nach den Anschlägen veröffentlicht wurde. Dort wird festgestellt, wer die Schuld an den Toten in Berlin hat. Nicht Merkel, nicht Flüchtlinge, nicht Gutmenschen, sondern nur der Fahrer selbst. Der Beitrag wird schnell verbreitet (z.B. bei der von mir sehr geschätzten „Hogesa„) und schon am nächsten Morgen ist die Reichweite riesig. Klar, die Fakten betrachtend und rein logisch vorgehend kann man zu diesem Schluss kommen: Nur der Mörder hat gemordet. Es ist auch eine angenehme Erkenntnis. Der Schuldige ist bereits gefasst. Sonst trägt keiner Schuld. Wir müssen uns nicht weiter über Flüchtlinge und die sich daraus ergebenden Realitäten unterhalten. Wir können weiter über „mehr Sicherheit“ diskutieren, wenn wir Überwachung meinen. Wir können weiter mit der profitorientierten Politik in Afrika und dem Nahen Osten weitermachen. Alles super. Game over.

Es ist so ein wenig wie in dem Beispiel vom Frosch im Wassertopf: Setzt man einen Frosch ins Wasser und erhöht langsam die Temperatur, springt der Frosch nie raus und wird langsam lebendig gekocht. Wirft man einen Frosch in heißes Wasser, springt er sofort wieder raus. Ich frage mich, ob wir nicht schon längst langsam gar gekocht werden. Ich will jetzt hier keinen Aluhut aufziehen, aber das Ganze hat schon etwas von einer Expositionsstrategie, wie sie z.B. in der Psychologie sehr erfolgreich eingesetzt wird, um Menschen an Dinge zu gewöhnen, die ihnen Panik verursachen.

Das erste Opfer ist immer der gesunde Menschenverstand. Danach kommt dann das, was wir heute gerne mit #Postfaktisch beschreiben. Das gilt nicht nur für unseren Umgang mit dem Terror. Es ist allgegenwärtig. Klima, Rohstoffe, Vermögen, Soziales, Asyl – überall haben wir uns vom gesunden Menschenverstand und – noch schlimmer – von der Fähigkeit zu differenzieren verabschiedet. Wir sind Pippi Langstrumpf und machen uns die Welt widdewidde wie sie uns gefällt.

Vielleicht ist das ein neuer Kniff der Evolution? Nachdem wir durch Beseitigung vieler Gefahren durch die moderne Zivilisation nicht mehr besonders schlau und findig sein müssen, um zu überleben, hat die Evolution nun vielleicht die Rahmenbedingungen geändert, um auf lange Sicht die positive Weiterentwicklung zu gewährleisten?! Die Evolution hat einen langen Atem, wie jeder weiß. Was passiert, wenn wir so weitermachen? Der entscheidende Punkt ist: Es wird keine Lösung der Probleme geben. Am Ende hat jeder, egal ob links, rechts, oben, unten und in jeglicher Farbe, „irgendwie“ Recht. Es geht mir selbst ja auch so. Ich bin für Asyl (links), für konsequentes Abschieben von Straftätern (rechts) – aber nur bei bestimmten Straftaten (Mitte). So geht das bei fast allen Fragen. Und jetzt?

Als erstes müssen wir uns davon verabschieden, dass es eine einfache Lösung für „Alles“ gibt. Wir haben schon Mühe in Kausalketten zu denken, aber unsere Gesellschaft ist ein komplexes Kausalnetzwerk. Es gibt eine riesige Anzahl von Ereignissen, die miteinander zusammenhängen. Unser Wusch, mit bezahlbarem Benzin zu unserer Liebsten zu fahren, hängt genauso mit den Toten in Berlin zusammen wie mit dem Typ, dem wir in der Fußgängerzone erlauben einen radikalen Islam zu predigen, oder einer Bundesregierung, die permanent beruhigen will. Insofern ist das Posting von ruthe „Wer Schuld ist“ falsch. Die Liste der Schuldigen ist endlos. Und wir stehen irgendwie mit drauf. Und weil das eben so kompliziert ist, verlagern wir uns auf einfache, manchmal postfaktische Sichtweisen. Dann ist die Welt wieder in Ordnung. Irgendwann führen aber die ungelösten Probleme unweigerlich zum totalen Zusammenbruch des Systems, in dem wir leben – was übrigens eine typische Lösung der Evolution wäre, wenn man in einer Sackgasse steckt. Am Ende bleiben nur die Stärksten, Schlauesten und Findigsten übrig. Ich hoffe sehr, dass dieser Prozess mir und meinen Kindern erspart bleibt.

Wie löst die Evolution Probleme sonst noch? Durch geschicktes Arbeiten in Regelkreisen. Einfaches Beispiel: Eine Population aus Jägern und Beutetieren hält sich gegenseitig im Gleichgewicht in einer bestimmten Fläche. Wird von den Jägern zu viel gefressen, wird das Futter knapp und es gibt weniger Nachwuchs. Und umgekehrt. In Wirklichkeit ist es natürlich viel komplexer. Die Menge an Futter für die Beute spielt auch eine wichtige Rolle für die Jäger, das Wetter und vieles andere mehr. Es ist ein komplexes System und die „Natur“ geht sehr differenziert vor, um alles im Gleichgewicht zu halten. Da war es wieder, das seltsame Wort: Differenzieren. Was bedeutet dieses Verb eigentlich?

Die Definition aus dem Duden ist schick, aber man könnte auch sagen, es hat etwas mit genauer hinsehen zu tun. Ein wichtiger Aspekt von „differenzieren“ ist es, auf Verallgemeinerungen zu verzichten. Wir Alle wehren uns dauernd gegen Verallgemeinerungen – auch Klischees genannt. Alle Männer gehen fremd. Alle Frauen heiraten, um versorgt zu sein. Sowas hat jeder von uns schon mal gehört und gleich gesagt „Es gibt aber auch Ausnahmen“ – und sich selbst damit gemeint. Auch in der Partnerschaft gibt es das: „Nie bringst Du den Müll raus“ oder „Immer hast Du Migräne, wenn ich Sex will“. Erfahrene Menschen vermeiden deshalb tunlichst alle Verallgemeinerungen bei Streit in der Beziehung. Es führt sonst (fast) jedes Mal zur Eskalation. Was wir im „Kleinen“ so gut beachten, ignorieren wir im „Großen“ völlig. Wir differenzieren einfach nicht mehr. Die „wasauchimmer“ sind Schuld. Immer.

Was wäre die Alternative? Nicht an Rädern drehen (oder fordern, dass daran gedreht wird) bevor klar wird, wie sie den Regelkreis beeinflussen. Von Fakten leiten lassen. Eine Erhöhung der Überwachung hat bisher noch zu keiner höheren Sicherheit geführt. Funktioniert hat gut ausgebildete und in ausreichender Anzahl vorhandene bürgernahe(!) Polizei und ein guter sozialer Zusammenhalt (Menschen die z.B. in Paris Passanten von der Straße in die Wohnung holten) und Zivilcourage (siehe Berlin). Das wäre ein guter Punkt für Maßnahmen. Auch müssen wir unterscheiden zwischen Symptom und Ursache. Es ist völlig klar, dass wir die Symptome des Terrors bekämpfen müssen – soweit das überhaupt möglich ist – aber totale Sicherheit wird es NIE geben. Noch nicht mal auf einem Weihnachtsmarkt. Wenn wir den Terror zurückdrängen wollen, wird es aber ohne das Anpacken der Ursachen nicht gehen. Das Profilbild wegen Aleppo zu ändern reicht eben nicht.

Jetzt sind wir nun mal nicht Bundeskanzler, Innenminister oder US Präsident. Was bleibt uns also übrig? Ein guter Anfang wäre es, wenn wir uns nicht verarschen lassen und weiterhin versuchen, unseren gesunden Menschenverstand zu benutzen. Immer aufmerksam werden, wenn „Alle“ (oft auch unausgesprochen) in einem Satz vorkommt. Wir könnten auch aufeinander aufpassen – würde sogar super zum bevorstehenden Fest der Liebe passen. Auch hier gilt wieder: Der gesunde Menschenverstand zeigt uns eigentlich, wo die Grenze zwischen Bespitzeln und aufeinander Aufpassen liegt. Traut euch das ruhig mal zu. Zusammenhalt ist die mit Abstand effektivste und beste Waffe gegen Terror.

Peace

Euer Christian