Trotz meines Rückzugs in die digitale Diaspora (auf einen Berg in der Nähe von Bad Hersfeld) und der beharrlichen Weigerung mich mit anderen Menschen zu beschäftigen kann ich dem alljährlichen Feiern der Wintersonnenwende, gemeinhin als Weihnachten bekannt, nicht entkommen. Schon wenn ich aus dem Zimmer komme, hat mein Flurnachbar sein Namensschild mit einem kleinen bunten Tannenbaum geschmückt. Es weihnachtet sehr. Quasi überall, immer und jederzeit. Weihnachten scheint von den meisten sehr gemocht zu werden. Gemeinsamer Weihnachtsmarktbesuch (natürlich mit Glühwein – sogar für die sonst so verwöhnten Pseudo-Sommeliers die den Fusel sonst nie anrühren würden. Zumindest wenn er kein edles Etikett hätte und min. 30€ die Flasche kostet), ein Vermögen für Geschenke ausgeben, plötzlich will man sogar mit den blöden Kollegen zusammen (Weihnachts)feiern und einige gehen sogar noch in die Kirche hab ich gehört. Kirche…. gab’s da nicht einen Zusammenhang mit Religion?

Religion ist ein gutes Thema zur Zeit. Die meisten haben das Vergessen, aber ein stattlicher Teil aller Kriegstoten auf der Welt geht auf „Religionskriege“ zurück. Achtung: Ich benutze die Bezeichnung „Religionskrieg“ weil es sich so eingebürgert hat. Aus meiner Sicht handelte es sich dabei aber immer um Wirtschaftskriege bzw. Eroberungsfeldzüge. Hierzulande haben die Christen die Mehrheit. In 2013 gab es bei ca. 80 Mio. Einwohnern 33 % Menschen ohne Konfession, 29,9% Katholiken, 28,5% Protestanten und 4,2% Muslims sowie 1,7% sonstige Religionsanhänger. Das ganze ist regional ziemlich ungleichmäßig aufgeteilt, was unter anderem zur Folge hat, dass die „Gottlosen“ sich oft von einer religiösen Minderheit sagen lassen müssen wann sie tanzen dürfen oder nicht – je nachdem wo man so wohnt. Ich denke aber das es in Ordnung geht. Schließlich dürfen wir dafür ja auch alle religiösen Feiertage mitnehmen – inkl. Weihnachten!
So pflegeleicht wie heute waren die Christen aber nicht immer. Die Kreuzzüge sind erst ein paar Jahrhunderte her. Moment! Waren Kreuzzüge nicht ursprünglich Feldzüge zur Eroberung von Land (Ressourcen) aufgrund vordergründlicher religiöser Motivation die aber tatsächlich hauptsächlich durch wirtschaftliche Interessen einer Elite (Adel) befeuert wurden wie Historiker auf Nachfrage gerne bestätigen werden? Die Beschreibung kommt mir aber irgendwie bekannt vor. Vielleicht sind wir (die westliche Welt) in diesem Sinne immer noch „Kreuzritter“ nur das es diesmal um Öl oder um den Reibach beim Wiederaufbau geht? So gesehen haben wir unsere Religion etwas besser sozialisiert (wir verbrennen keine Menschen mehr – wir schicken Drohnen), im Kern sind wir aber noch genauso dabei. Das ist scheinbar der verbindende Faktor zwischen Religionen. Besonders deutlich bei jüngeren Religionen, wie z.B. dem Islam, der quasi noch in der Pubertät ist und relativ halbstark unterwegs. Es gibt aber auch andere verbindende Elemente. Die meisten Religionen können sich sinngemäß auf das einigen was im Neuen Testament steht, d.h. man findet in allen Religionen auch sinnvolle Anweisungen für ein friedliches, soziales Zusammenleben. Unglücklicherweise kann man eben auch aus allen Schriften auch das Gegenteil herauslesen – von Interpretationen noch gar nicht gesprochen.
Ich habe mir vor einiger Zeit das Buch „Mohammed“ von Abbdel-Samad durchgelesen. Ich kann es nur jedem empfehlen, auch wenn das Buch für strenggläubige Moslems sicher schwer zu verdauen ist. Der Grund ist aber nicht das Kritische was sich ohne Frage in dem Buch findet. Man fragt sich (mit Recht) ob der Koran überhaupt eine Grundlage für den Islam sein kann. Spannend fand ich aber, dass es ganz ähnliche redaktionelle und historische Analysen auch für die Bibel gibt die in etwa die gleichen Schwachpunkte aufzeigen. Meine inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Christentum liegt schon mehrere Dekaden zurück, aber erstaunlicher Weise sind es letztlich die gleichen Argumente (zusätzlich zu grundsätzlichen Problemen der Kirchenführung und deren Wirtschaftsmacht. Lesetipp: Gott hat hohe Nebenkosten) weshalb für mich Religion keine echte Option war.
Keine Frage: Viele (vielleicht die meisten) religiöse Menschen nehmen ihre Glaubensgrundsätze um Gutes zu tun – oder was sie dafür halten. Gottgefällig sein ist die passende Beschreibung. Kann das Schaden? Offensichtlich schon. Außerdem ist zum Wohle der Gesellschaft viel weniger als Regelwerk notwendig als die typischen heiligen Schriften beinhalten. Genau genommen bräuchte man nicht mal 10 Gebote. Deutlich weniger tun es auch. Was Richtig und Falsch ist, das Gefühl für Fairness und sozialem Umgang miteinander ist uns allen in die Wiege gelegt. Glaubst Du nicht? Es gibt Berge von Studien die das sozialverhalten von Kleinkindern und sogar Säuglingen getestet haben. Wenn man z.B. 2 Kleinkinder nebeneinander setzt und dem einen 2 Mohrenköpfe (ja ich hab Mohr gesagt!) auf den Teller legt und dem anderen keinen wird automatisch geteilt. Geht sogar ohne Sprache und in fast allen Fällen. Dagegen konnte die empirische Forschung den unserem Wirtschaftssystem zugrunde liegenden Homo oeconomicus, also den streng rationalen und egoistischen Mensch, bisher nicht finden.
Eigentlich brauchen wir keine Religion. Wir haben alles in uns was nötig wäre um eine gute und soziale Welt zu schaffen. Organisierte Religionen liefern zunächst einmal eins: Die Bedrohung durch die Verdammnis bei nicht regelhaften Verhalten sowie das Paradies, wenn man brav war. Wenn die „gesetzgebende“ Einheit gleichzeitig auch die „überwachende“ und „vergebende“ ist findet keine Gewaltenteilung statt. Warum ist wohl in allen modernen Verfassungen Gewaltenteilung ein wesentlicher Faktor? Genau! Weil sonst Missbrauch zu befürchten ist und offensichtlich haben wir den bei allen Religionen.
Trotzdem erfüllt Religion immer noch zwei wichtige Zwecke. Der wichtigste: Es finden Menschen darin Trost. Das ist sicher auch der Grund weshalb die Religion Menschen seit Jahrtausenden schlecht behandeln kann und sie sich trotzdem nicht alle abwenden. Leider ist unsere Gesellschaft nicht darauf ausgelegt Menschen Trost zu spenden. Alle Elemente die dazu geeignet waren haben wir dem Bruttosozialprodukt geopfert. Große Familien, Arbeiten in kooperativen Einheiten, Vereine, Dorfgemeinschaften, soziales Netz und Hilfe für die Schwachen. Alles Dinge die seit einiger Zeit wieder auf dem Rückzug sind nachdem wir während der Aufklärung einen großen Schritt nach vorne gemacht haben und auch auf viele Jahrhunderte des (sozialen) Fortschritts zurück schauen können. Ich persönlich habe immer die Menschen beneidet die einen festen Glauben daran hatten das ein „Gott“ über sie wacht. Ich kann verstehen, dass viele Menschen Kritik gegenüber Religionen taub sind, weil sie sich das erhalten wollen. Wir haben ja auch als Gesellschaft nichts Besseres zu bieten! Wenn wir also religiösem Fanatismus begegnen wollen müssen wir uns darum kümmern. Wenn die Menschen fest in eine Gemeinschaft eingebunden sind, Freunde haben, ein soziales Netz und eine Perspektive sprengen sie sich nicht in die Luft und ziehen auch nicht in den Krieg um Ölfelder zu erobern. Sie haben nämlich was besseres.
Der zweite Faktor ist der normative und regulative Faktor der Religion. Mein Lieblingsbeispiel ist dabei das Kaffeekassen-Experiment. Wer sich im Detail dafür interessiert findest es in den Werken von Manfred Spitzer (oder im Link oben), einer der führenden deutschen Neurowissenschaftlern. Fakt ist aber, dass Menschen deutlich ehrlicher sind wenn sie beobachtet werden – oder denken das sie beobachtet werden. In der Vergangenheit hat Gott immer die Rolle des (unsichtbaren) Beobachters übernommen und damit zum sozialen Verhalten beigetragen. Ich denke es ist kein Zufall, dass die Tatsache, dass „Gott“ für viele Menschen keine Rolle mehr spielt und die deutliche Verrohung der Sitten zusammenhängen. Unsere Gesetze sind als weltlicher Ersatz gedacht, aber das funktioniert nur teilweise. Wir können nicht jedes Detail im Umgang per Gesetz regeln noch können wir die Einhaltung zu 100% überwachen – so wie ein Gott es könnte.

Also doch lieber die Religion nicht abschaffen? Gute Frage. Ich denke wir befinden und in einer sehr verletzlichen Phase, vergleichbar dem Umstieg von einem Tier mit Außenskelett bzw. Panzer zu einem mit Innenskelett. Die Religion gab uns früher ein Außenskelett vor in dem wir relativ geschützt waren. Der Panzer ist immer mehr auf dem Rückzug und wir benötigen ein inneres Skelett oder Rückgrat – und zwar aus ethischen Grundsätzen. Das Gute ist, diese Grundsätze können universal sein, wenn wir uns auf ein Mindestmaß beschränken. Wir handeln in den meisten Fällen nach diesen Grundsätzen, wenn wir mit Familie und engen Freunden umgehen. Gewalt, Diebstahl oder absichtliches Schaden aus Vorteilsnahme stellt immer noch die Ausnahme in engen sozialen Beziehungen dar.
Wenn es uns gelingen würde die Grundsätze auch auf „Fremde“ anzuwenden würden die meisten unserer Gesetze obsolet. (Religions)kriege gäbe es dann auch nicht mehr. Dazu benötigen wir aber mehr als bloße Einsicht. In unserem derzeitigen Gesellschaftssystem sind wir alle zum Konkurrenzdenken erzogen. Es würde mehrere Generationen dauern so etwas zu Ändern. Ein guter Grund jetzt anzufangen!
Frohe Weihnachten 😉
Peace – Euer Christian